Die kurdischen "Volksprotektions Einheiten", bekannt unter der Abkürzung YPG, haben die Grenzstadt zur Türkei, Tel Abyad, eingenommen.Tel Abyad liegt östlich von Kobane, das sich seit Januar in kurdischer Hand befindet, nachdem bittere Kämpfe mit dem IS seit September 2014 angedauert hatten. Tel Abyad liegt direkt nördlich von Raqqa, der Hauptstadt vom IS und galt bisher als der wichtigste Grenzübergang zwischen Raqqa und der Türkei. Auf diesem Weg kamen ausländische Kämpfer nach Raqqa, aber auch syrisches und irakisches Erdöl, aus den Bohrungen, die der IS beherrscht, wurde über Tel Abyad in die Türkei transportiert und - zu verbilligten Preisen – an Mittelsmänner verkauft, die es dann weiter vermarkten.
Aktionsbündnis mit der FSA
Die YPD Kämpfer und verbündete Milizen, unter ihnen auch Reste der FSA (Freie Syrische Armee) hatten einen gemeinsamen Operationsraum gebildet, den sie "Euphrat Vulkan" nannten, und Tel Abyad von drei Seiten her eingekreist. Die vierte Seite bildet die türkische Grenze. Im Süden von Tel Abyad liegt der Jebel Abdul Aziz, den die Verbündeten zuerst in Besitz nahmen, bevor sie die Stadt eroberten.
Dies führte dazu, dass die IS Kämpfer in Tel Abyad ihre Verbindung nach Raqqa verloren. Das Mobiltelephon eines ihrer Anführer wurde gefunden. Darauf war eine Nachricht an seine Mitstreiter, bis zum Tode weiter zu kämpfen. Dennoch gibt es andere Mitschnitte von Telefonaten, die zu erweisen scheinen, dass IS Kämpfer sich über die türkische Grenze hinweg zurückzogen.
Kommt einen Gegenangriff vom IS?
Die Positionen der YDP und ihrer Verbündeten auf der Strasse von Tel Abyad nach Raqqa reichen bis auf 70 Km an Raqqa heran. Tel Abyad selbst liegt 100 km von Raqqa entfernt. Man hat zu erwarten, dass der IS zu einem Gegenangriff antreten wird. Doch wie lange es dauern wird, bis die dazu nötigen Truppen zusammengezogen sind, weiss man nicht. IS hatte in den letzten Wochen erfolgreich versucht, seine Eroberungen auszudehnen und hatte Ramadi im Irak sowie Palmyra in Syrien erobert.
Wahrscheinlich hat das "Kalifat" bedeutende Teile der verfügbaren Kämpfer an diesen fernen Fronten eingesetzt und dadurch die Eroberung an der türkischen Grenze erleichtert. Gekämpft wird auch weiter im Osten um die syrische Provinzhauptstadt Hassake. Teile von Hassake sind von Regimetruppen besetzt, Teile von Kurden der YDP, und die IS-Kämpfer standen dort in der Offensive, ohne die Stadt voll einnehmen zu können.
Die USA offen an der Seite der syrischen Kurden
Die kurdischen Kämpfer erhielten wirksame Hilfe durch die Luftwaffe der Koalition, die die Amerikaner geschmiedet haben. Dies ist nicht selbstverständlich. Die "syrische" YPD ist eine Tochterorganisation der "türkisch" kurdischen PKK, und diese gilt den Türken und den anderen Nato Mächten als eine "Terrororganisation", was sie ohne Zweifel einst (als sie 1984 ihre Aktivitäten in der Türkei begann) wirklich war. Die Amerikaner zögerten daher zuerst, die YPG zu unterstützen.
Doch die Kämpfe von Kobane haben dies geändert. Dort griff die amerikanische Luftwaffe energisch ein. Nach Kobane vermieden die Amerikaner, von einer Unterstützung der YPG zu sprechen. Sie meldeten Luftschläge im Bereich von Hassake und Tel Abyad, ohne ausdrücklich zu sagen, zu wessen Gunsten dies geschah. Doch diese verbale Zurückhaltung hat nun auch ein Ende gefunden. Nach dem Fall von Tel Abyad erklärten die Amerikaner offen, sie hätten die YPG mit Luftschlägen unterstützt.
Bedenken in der Türkei
Als wenig begeistert von dem kurdischen Erfolg erwiesen sich die Behörden der Türkei. Der stellvertretende Türkische Ministerpräsidenten, Bülent Ariç, erklärte, die Türkei befürchte, die Kurden wollten zusammenhängende Gebiete aus den drei kurdischen Enklaven bilden, die auf der syrischen Seite der türkischen Grenze liegen. Die Einnahme von Tel Abyad sei ein Schritt auf dieses Ziel hin. Was Ariç nicht erwähnte, ist der Umstand, dass auch jenseits der türkischen Grenze Kurden leben, die zum türkischen Staat gehören.
Die Befürchtung der türkischen Regierung besteht darin, dass diese "türkischen" Kurden unter den Einfluss ihrer selbstständig gewordenen kurdischen Brüder auf der südlichen Seite der Grenze gelangen könnten, falls deren Selbstständigkeit permanente Züge annimmt. Präsident Erdogan hat sich etwas gewundener, aber im gleichen Sinne geäussert. Er erklärte, die Eroberung der Grenzstadt durch die der PKK nahestehenden YPG "ist kein gutes Zeichen. Sie könnte zur Bildung von Strukturen führen, die künftig unsere Grenzen bedrohen", und er fügte hinzu: "Niemand soll es wagen, unsere Interessen zu übergehen". Erdogan sagte auch, die dortigen Araber und Turkmenen würden nun aufs Korn genommen, die Türkei habe bereits in der vergangenen Woche 15´000 von diesen aufgenommen.
Grenzsperrung wieder aufgehoben
Am Sonntag wollten die türkischen Grenzsoldaten weitere Tausende von Flüchtlingen, die aus Tel Abyad und den umkämpften umgebenden Dörfern kamen, zunächst nicht in die Türkei einlassen. Dies führte zu Versuchen, den Grenzzaun mit Gewalt zu durchbrechen und zu überqueren. Die Grenzsoldaten öffneten ihn schliesslich und erklärten, nun hätten sie Befehl, die Flüchtlinge einzulassen. Unter ihnen scheinen sich den Bildern nach auch IS-Kämpfer in Uniform befunden zu haben.
Die Bevölkerungsstruktur an der türkischen Grenze ist gemischt. In Tel Abyad gab es vor dem syrischen Bürgerkrieg Kurden, Armenier, Turkmenen und Araber. Zwischen 30 und 40 Prozent sollen Kurden gewesen sein. Die umliegenden Dörfer besten ebenfalls aus gemischter Bevölkerung. Die Region hat eine lange Geschichte von Bevölkerungsumsiedlungen seitens der Regierung. Unter der Herrschaft von Asad Vater und Sohn, war versucht worden, möglichst viele Kurden zu enteignen und arabische Stämme in ihren Höfen anzusiedeln. Damals wurden die syrischen Kurden nicht als syrische Bürger anerkannt und als Staatenlose behandelt.
Fanatische Anhänger und Mitläufer
Als dann der IS Tel Abyad beherrschte, flohen die dortigen Kurden, die vom IS als "gottlos" angesehen werden. Sie gingen teils über die Grenze nach der Türkei, teils nach Kobane und in die nordöstlich liegende Ortschaft Sera Kaniye, wo sich eine Konzentration von Kurden befindet. Nun kehren sie zurück, und manche der Araber fliehen, weil sie befürchten müssen, sie würden nun angeschuldigt, mit dem IS zusammengearbeitet zu haben. Ein Gewährsmann aus Tel Abyad, der sich in der Türkei befindet, erklärt: „In Tel Abyad gab es zwei Arten vom IS: zum einen Kämpfer und fanatische Anhänger, oft aus dem Ausland, und andrerseits lokale Mitläufer, die versuchten, von Land- und Hausbesitz der geflohenen Kurden zu profitieren. Das waren syrische Araber.“
Ähnlich ist es auch südlich von Tel Abyad. Wo heute die Kämpfer der YPG stehen, gibt es Dutzende von arabischen Dörfern. Darunter sind solche, die "schon immer" arabisch waren, aber auch andere, die einst von Kurden bewohnt waren, die jedoch im Verlauf der Jahrzehnte von 1970 bis 2010 in verschiedenen Schüben aus ihren Wohnstätten vertrieben wurden. Dort wohnen nun Araber, manche schon seit 40 Jahren. Wie es unter solchen Umständen kaum zu vermeiden ist, gibt es nun Befürchtungen und Klagen über erwartete oder angeblich bereits geschehene "ethnische Säuberungen". Die Sprecher der YPG versuchen, diese Befürchtungen zu zerstreuen. Sie erklären, alle Flüchtlinge könnten sofort in die Dörfer zurückkehren, aus denen sie geflohen seien. Doch ob sich die Milizen vor Ort wirklich an solche Zusagen halten, ist ungewiss. Offenbar fürchten viele der Flüchtlinge das Gegenteil.
Vergleichbare Lage im Irak
Es git ähnliche Situationen in den bisher gemischten Gebieten an den weiten Randzonen der irakischen Kurdengebiete. Die Bewohner - Kurden, Araber, assyrische Christen, Yeziden, Turkmenen - sind grösstenteils vor dem IS geflohen, als vor einem Jahr das "Kalifat" sich dieser Zonen bemächtigte und die irakische Regierungsarmee sie kampflos räumte. Die kurdischen Peschmerga haben jedoch Teile dieser Randzonen gehalten und andere zurückerobert. Nun gibt es offenbar eine Tendenz, die kurdischen Flüchtlinge zurückwandern zu lassen, jedoch die nicht-kurdischen aus angeblichen Sicherheitsgründen fern zu halten.
Dabei spielt, wie in Nordsyrien, die Erinnerung daran einen Rolle, dass über Jahrzehnte hinweg die kurdische Bevölkerung dieser Zonen durch Übergriffe der Regierung und insbesondere der damaligen Staatspartei, Baath, reduziert worden war. Die Erdölstadt Kirkuk, ebenfalls im Vorfeld der allseitig anerkannten drei irakischen Kurdenprovinzen gelegen, ist das Zentrum derartiger Auseinandersetzungen. Vergleichbare Diskussionen haben nun offenbar auch im syrischen Grenzraum begonnen, und die Türkei auf der anderen Seite der Grenze ist dabei ein höchst aufmerksamer Zuschauer.
Zwei kurdische Kantone verschmelzen
Die syrischen Kuden nennen ihre drei Grenzenklaven Kantone. Es sind Cizre im Osten, Kobane in der Mitte und Afrin weit im Westen. Mit dem Fall von Tel Abyad, und vorausgesetzt, dass nicht noch eine erfolgreiche Gegenoffensive vom IS stattfindet, werden nun die Kantone Cizre und Kobane miteinander verbunden. Afrin bleibt noch fern und isoliert.
In den drei Gebieten leben ungefähr eine Million Kurden. In allen drei Kantonen gibt es heute kurdische Regierungsstrukturen mit beratenden Versammlungen und einer Exekutive. Es gibt zahlreiche kurdische Parteien; gegen 90 werden genannt. Doch die Partei PYD (für Demokratische Einheitspartei), welche mit Hilfe der PKK die Kampfgruppen der YPG aufgestellt hat, besitzt auch politisch das Hauptgewicht in den kurdischen Kantonen.