Wenn in unserem Land ein neuer Chef an die Spitze des Departements für auswärtige Angelegenheiten tritt, fragt sich der Bürger, ob wohl mit neuen Akzenten in den internationalen Beziehungen der Schweiz zu rechnen ist. Der jüngste Wechsel, von Didier Burkhalter zu Ignazio Cassis, war im zentralen Bereich der Europapolitik von der wenig glücklichen Rede von einem „Reset“ begleitet – einem Neubeginn? einem Paradigmenwechsel? –, eine Fehlanzeige, wie sich bald einmal erweisen sollte.
Vergleiche mit anderen Ländern erfordern Nuancierungen in mehr als einer Hinsicht. Da ist zunächst der Hinweis wichtig, dass Bundesräte Mitglieder einer Kollektivbehörde sind, die sowohl die Funktion einer Regierung als auch jene eines Staatsoberhaupts wahrnimmt. Und jeder Bundesrat wird von der Bundesversammlung ad personam gewählt, also nicht einfach von einer übergeordneten Instanz ernannt. Das ist in den meisten Ländern anders: Selbst sehr staatsmännisch auftretenden Ministern kommt dort innerhalb des Kabinetts höchstens die Rolle eines Antragstellers und Exekutanten und nicht jene eines Entscheidungsträgers zu. Die aussenpolitische Marschrichtung wird primär durch den Regierungschef oder gar das Staatsoberhaupt festgelegt und verkörpert.
Diese für schweizerische Bundesräte schmeichelhafte Stellung wird allerdings durch mehrere Faktoren relativiert. Als neutraler und friedliebender Kleinstaat betreibt die Schweiz keine Weltpolitik und viele Bürger halten Aussenpolitik ohnehin für überflüssig. Unter den sieben Berner Departementen galt das Auswärtige lange Zeit nicht als Schwergewicht. Bürgerliche Politiker sahen dort mit Vorliebe linke und welsche Chefs. Dazu kommt, dass Bundesräte nicht als Fachminister gewählt werden; die Departementszuteilung erfolgt erst nach der Wahl. Selbst im Parlament sind aussenpolitische Experten selten und mit einem Berufsprofil in internationalen Beziehungen gelangt man in der Regel nicht in den Bundesrat. So kommt es denn, dass neue Schweizer Aussenminister in ihrem neuen Fachbereich meist Laien sind und dass ihr Name im „carnet d’adresses“ gewichtiger Akteure der internationalen Bühne fehlt.
Mittlerweile erscheint das Internationale allerdings selbst in unserem Land nicht mehr nur als Beiwerk, sondern durchdringt sämtliche Bereiche des staatlichen Handelns. Auf wichtigen Gebieten ist diese Internationalisierung nicht das Ergebnis einer bewussten politischen Weichenstellung, sondern einer unausweichlichen Interdependenz. In der Bewältigung der Migrationsproblematik genügt es nicht, den Kopf in den Sand zu stecken. Die Sicherheit Europas ist auch die Sicherheit der Schweiz. Der äussere Frankenkurs ist gewichtiger für das Wohlergehen als alle binnenwirtschaftlichen Beschlüsse des Bundesrats zusammen. Die Modalitäten der Energiewende können nicht am heimischen Stammtisch ausgehandelt werden. Die Cyberkriminalität ist nicht mit Grenzwächtern aufzuhalten. In vielen Fällen sind diese Wahrheiten dem Bürger geläufig; die Handhabung der geeigneten Instrumente, einschliesslich jener der Solidarität, widerstrebt indessen vielen. Immerhin: Mit der jüngsten Ernennung eines Staatssekretärs im EDA für die Verhandlungen mit der EU setzt der Bundesrat ein deutliches Zeichen: Die Schweiz muss in Brüssel und den EU-Hauptstädten mit einer einzigen Stimme sprechen und die hierfür erforderliche Koordination obliegt dem Departement für Auswärtiges.
Damit stellt sich dringend die Frage der Kommunikation. In einer direkten Demokratie ist es nicht zuletzt Sache des Aussenministers und seiner Spitzenbeamten, in der Bevölkerung die gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Auswärtigen und der Innenpolitik aufzuzeigen. Es ist eine Kalamität, dass heute eine national-konservativ tickende Partei ausgerechnet die Verankerung des Landes im Völkerrecht zu lockern versucht, der Souveränität einen Absolutheitsgrad zuerkennen will, den sie nie hatte und der zur Lösung effektiver Aufgaben im auswärtigen Bereich nicht nur nichts beiträgt, sondern die Stellung der Schweiz schwächt, unglaubwürdig macht; Protektionismus hat viel mit Defaitismus zu tun …
Doch wie kommunizieren? Weltbürgerlicher Idealismus kommt in der Schweiz schwer an. Mitunter kann man sich mit einem harten Interessendiskurs eine gewisse Aufmerksamkeit sichern. Sehr oft liegt das Problem darin, dass bei vielen Bürgern schlicht die Einsicht in die konkreten Zusammenhänge fehlt: Was wissen sie wirklich vom Funktionieren des europäischen Stromverbunds? Wieviel Bewegungsfreiheit oder Marktzugang braucht der schweizerische Finanzplatz? Was bedeutet es konkret, wenn unsere Forscher nicht mehr an europäischen Programmen teilnehmen können? Wohin fliessen unsere Solidaritätsbeiträge an weniger entwickelte europäische Staaten? Das alles sind anspruchsvolle Themen, die sich kaum für populistische Vereinfachungen eignen.
Was uns vorschwebt, ist nicht ein aus dem Bundeshaus alimentierter flotter „Aufklärungsdienst“. Vielmehr müssen sich die Akteure der Zivigesellschaft – Verbände, Firmen, Vereine, Institute, Universitäten, Schulen – vermehrt dieser Aufgabe zuwenden. Der vielfältige Diskurs der realen Abhängigkeiten muss in einen offiziellen Diskurs der selbstbewussten Zugehörigkeit eingebracht werden. Hier liegt die zentrale Verantwortung des Aussenministers, der gewissermassen seinen Mitbürgern die Welt in ihrer oft beängstigenden Komplexität erklären muss: Das ergäbe dann wohl weit mehr als nur die Rede von Verhandlungen, Abkommen und Streitfällen. Wo steht die Schweiz im europäischen und weltweiten Kontext? Welches ist ihre Verantwortung und ihre Rolle? All dies ist allerdings leichter gesagt als getan. Der Aussenminister muss nicht nur die Gabe haben, sein Land glaubwürdig zu vertreten, sondern auch den Mut, dieses aus der Befangenheit mit innenpolitischen Querelen hinauszuführen. Wir wünschen Bundesrat Cassis diesen Mut.