Die Fotos sind nicht immer scharf, und viele von ihnen lassen für den ungeschulten Blick auch jeden Gestaltungswillen vermissen. Handelt es sich hier um einen Kult um das Banale?
Situationen und Geschichten
Strassenbilder lassen sich aber auch aus einer ganz anderen Perspektive betrachten. Demnach sind Menschen nirgends so gut zu beobachten wie auf der Strasse. Die Strasse ist ein natürlicher Lebensraum, der zum Alltag gehört. Viele laufen darin so herum, wie sie immer herumlaufen, andere ziehen sich besonders an. Schon dies ist ein interessanter Unterschied. Manche Menschen wirken einsam, einigen geht es besser, anderen schlechter, und auf der Strasse gibt es unendlich viele Situationen, die jede für sich auf dahinter liegende Geschichten verweisen.
So betrachtet, ist die Strasse ein ideales Biotop für endlose Beobachtungen und natürlich für die Fotografie. Das macht die Aufgabe aber nicht leichter. Denn den Fotografen muss es gelingen, ihre Fotos so zu gestalten, dass klar wird, was sie damit ausdrücken wollen. Wie bringen sie Form und Inhalt zur Deckung?
Robert Frank
Stilbildend war hier Robert Frank. Er hat mit einem Stipendium der Guggenheim Stiftung von 1955 bis 1957 die Vereinigten Staaten bereist und dabei 28’000 Aufnahmen gemacht, von denen er 83 in dem Band „The Americans“ 1958 veröffentlichte. Bei vielen Fotokritikern und Fachfotografen kam er damit gar nicht gut an. Was war denn das? Unschärfen wie bei einem Knipser, von herkömmlicher Bildgestaltung keine Spur, und von den Perspektiven reden wir gar nicht erst. Frank widerfuhr also das typische Schicksal der Avantgarde. Heute wird „The Americans“ vielfach als der wichtigste Bildband des 20. Jahrhunderts bezeichnet, und es gibt keinen Fotografen von Rang, der sich damit nicht auseinandergesetzt hätte.
Dadurch wurden auch die Vorstellungen des Publikums geprägt. Unter Street Photography versteht man Bilder, die spontan aus dem Augenblick heraus entstehen und entsprechend Schnappschüssen ähneln. Eine grosse Zahl ist schwarzweiss, aber es gibt auch Farbe. Meistens werden kleine Reportagekameras verwendet, aber es gibt Ausnahmen.
Einer der bekanntesten Strassenfotografen war Gary Winogrand. An seinem etwas skurrilen Schicksal kann man die Ambivalenz der Strassenfotografie erkennen. Denn mit zunehmenden Jahren verlor er die Kontrolle über seine Fotografie. Er machte Fotos über Fotos, die er am Ende nicht einmal mehr entwickelte. Nach seinem Tod fand man in seinem Nachlass 2’500 belichtete, aber unentwickelte Filmrollen.
Der Bildband, „Street. Life. Photography. Street Photography aus sieben Jahrzehnten“, geht auf eine Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen zurück, die von Juni bis Oktober 2018 gezeigt wurde. Derzeit kann man sie im Kunst Haus Wien besuchen, und im kommenden Jahr kommt sie vom September bis November an das Fotomuseum Winterthur. Die Auswahl der Bilder und die Themensetzung gehen über das herkömmliche Verständnis der Strassenfotografie hinaus. Den Kern bilden zwar einige der Bildfolgen, die man mit der Street Photography verbindet. Aber es gibt neue thematische Bildgruppen. So spielen „Linien“, „Zeichen“, „Räume“, „Öffentlicher Verkehr“ eine besondere Rolle.
Unerwartete Vielfalt
Dadurch entsteht auch im Stil der Bilder eine unerwartete Vielfalt. Da stehen hochartifizielle Architekturfotos, akribische Bilder von Details, geradezu überbordende Ansichten von Märkten neben überaus gewagten und gekonnten Details aus dem alltäglichen Gedränge. Der Betrachter wird wieder und wieder neu gefangen genommen. Man kann sich vielen Bildern ebenso wenig entziehen wie ein Verkehrsteilnehmer dem täglichen Geschehen auf der Strasse.
Besonders berührend sind Fotos, die einzelne Menschen in ihrer Unverwechselbarkeit und Verletzlichkeit zeigen. Diane Arbus zum Beispiel hat 1971 in New York eine Frau beim Überqueren einer Strasse aufgenommen. Mit ihrem Hut, ihrem pelzbesetzten Mantel, ihrer an sich gepressten Handtasche und der gebückten Haltung drückt sie eine Angst aus, die viel über ihre Zerbrechlichkeit aussagt. Während dieses Bild eher Empathie weckt, gibt es andere, die Befremden auslösen und Distanz schaffen. In dem Abschnitt „Public Transfer“ hat Dougie Wallace Passagiere fotografiert, deren Aussehen die Betrachter erschrecken muss. Die Bilder wirken, als wäre hier Martin Parr noch einmal überboten worden.
Der kommt allerdings im Abschnitt „Alienation“ mit zwei Bildern vor. Da zeigt Martin Parr Menschen inmitten städtischen Mülls auf den Strassen, und das Schockierende besteht darin, dass ihnen der Müll überhaupt nichts mehr auszumachen scheint.
Aber man findet auch zahlreiche Bilder von grösster Schönheit. Das betrifft sowohl die Architektur wie auch manche Menschen, die voller Empathie und mit grossem Können ins Bild gesetzt wurden. Und Martin Roemers hat in seiner Serie „Metropolis“ Bilder geschaffen, die aufgrund ihrer Opulenz und ästhetischen Perfektion den Betrachter geradezu überfluten. Man muss innehalten und sich die Bilder mehrfach ansehen. Sie bilden den wohl schärfsten Gegensatz zu anderen Bildern dieses Bandes, deren Reiz gerade in ihrem radikalen Minimalismus liegt.
Street.Life.Photography. Haus der Photographie. Deichtorhallen
Hamburg. Herausgegeben von Sabine Schnakenberg
Texte von Dirk Luckow, Christoph Schaden, Sabine Schnakenberg
Gestaltet von Kehrer Design (Hannah Feldmeier), 244 Seiten, 194 Farb- und S/W-Abbildungen
Deutsch / Englisch, Kehrer Verlag 1919, ca. 49,90 Euro