Im Westjordanland ist die bekannte palästinensische Journalistin Shireen Abu Akleh erschossen worden. Berichte über den Tod der Al Jazeera-Korrespondentin divergieren.
Die 51-jährige Shireen Abu Akleh wurde am Mittwoch früh in einem Flüchtlingslager der Stadt Jenin getötet. Ihr Arbeitgeber, der arabische Fernsehsender «Al Jazeera», und das palästinensische Gesundheitsministerium beschuldigten die israelische Armee, die äusserst erfahrene und in der ganzen arabischen Welt populäre Korrespondentin erschossen zu haben. Ein Journalist, der sie in Jenin begleitete, wurde von einer Kugel in den Rücken getroffen.
Der Generalstabschef der israelischen Armee (IDF) teilte in der Folge mit, es sei noch unklar, wer Abu Akleh erschossen habe. In einem separaten Statement der IDF hiess es, die Armee untersuche die Möglichkeit, dass die beiden Medienschaffenden von bewaffneten Palästinensern getroffen worden seien. Verteidigungsminister Benny Gantz verwies in einem Briefing auf die unsichere Nachrichtenlage. «Vielleicht haben die Palästinenser sie erschossen», sagte er: «Tragischerweise könnte es auch jemand von unserer Seite gewesen sein. Wir untersuchen das.» Israel hat angekündigt, den Vorfall, einem israelischen Journalisten zufolge ein «PR-Desaster», zusammen mit palästinensischen Behörden untersuchen zu wollen.
Aktion und Reaktion
Fakt ist, dass seit Ende März dieses Jahres 19 Israelis und Ausländer bei Attacken von Palästinensern getötet worden sind. In deren Folge kam es in Jenin wiederholt zu Operationen der israelischen Armee. Drei der mutmasslichen Täter der Angriffe von palästinensischer Seite stammen aus Jenin.
Doch mehrere Augenzeugenberichte und eine forensische Untersuchung der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem lassen Zweifel am Wahrheitsgehalt der Version der IDF aufkommen. Die israelische Armee hat ein Video veröffentlicht, auf dem ein Bewaffneter zu hören ist, der auf Arabisch sagt: «Sie haben einen getroffen – sie haben einen Soldaten getroffen, er liegt am Boden.» Doch zum Zeitpunkt der Aufnahme, so die IDF, seien bei Kämpfen in Jenin keine israelischen Soldaten verwundet worden. Es könne sich also beim Opfer um Shireen Abu Akleh handeln.
Widersprüchliche Indizien
Doch ein Vertreter von B’Tselem zeigte ausländischen Medienschaffenden eine Karte, auf der mit Hilfe von GPS-Koordinaten und einer Luftaufnahme der Ort eingezeichnet war, an dem die Schüsse fielen. Auf der Karte ist deutlich zu sehen, dass der Ort, an dem das Video aufgenommen worden ist, und die Stelle, an der Abu Akleh getötet wurde, über 800 Meter auseinanderliegen. Auch sieht die relativ unbebaute Umgebung, in der die Korrespondentin erschossen wurde, ganz anders aus als jene auf dem Video der IDF mit engen Gassen.
Das bestätigte im Spital auch Ali al-Samudi, der palästinensische Journalist, der in den Rücken getroffen worden ist. Er und Shireen Abu Akleh seien mehrere hundert Meter vom Haus entfernt gewesen, wo israelische Soldaten versucht hätten, einen Verdächtigen zu verhaften. Sie seien zu viert oder zu fünft gewesen und hätten alle schusssichere blaue Westen und Helme mit der Aufschrift «Presse» getragen. Auch hätten sie sich, weil israelische Armeefahrzeuge in der Nähe waren, besonders langsam bewegt, um ja keinen Verdacht zu wecken.
Aussichtsloser Rettungsversuch
«Es waren keine Kämpfer in der Nähe, wo wir waren», berichtete Al-Samudi: «Wir wandern nicht ins Schussfeld. Wir befolgen, was uns die israelische Armee zu tun befiehlt. Sie haben direkt und absichtlich auf uns geschossen.» Shatha Hanaysha, eine palästinensische Journalistin, die ebenfalls in der Nähe war, bestätigte die Aussage ihres Kollegen: «Wir standen etwa zehn Minuten lang im Freien, um sicherzustellen, dass die israelische Armee uns als Medienschaffende identifizieren konnte.»
Als einzelne Schüsse fielen, hätten sie und Shireen versucht, über eine Mauer zu klettern, um sich in Sicherheit zu bringen. Doch sie hätten es nicht mehr geschafft und Shireen sei am Hals tödlich getroffen worden. Sie, Shatha, habe noch versucht, ihr zu helfen, aber die Schüsse hätten sie gestoppt.
Grosses Engagement
Shireen Abu Akleh, 1971 als Tochter christlicher Eltern in Jerusalem geboren, studierte in Jordanien Architektur und Journalismus, bevor sie 1998, ein Jahr nach dessen Gründung, für den Fernsehsender «Al Jazeera» in Katar zu arbeiten begann. Sie berichtete aus der ganzen Region, aber ihr besonderes Interesse galt stets dem Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis, den sie jeweils aus nächster Nähe verfolgen wollte. Sie lernte Hebräisch, um israelische Medien besser verstehen zu können. Einem Vorgesetzten zufolge hätte sie an ihrem Todestag nicht nach Jenin fahren müssen, um über etwas zu berichten, was Routine geworden war. Doch sie habe darauf bestanden, hinzugehen.
Befreundeten zufolge war Shireen Abu Akleh in ihrer Heimat äusserst populär. Sie sei, sagt die palästinensisch-amerikanische Journalistin Dalia Hatuqa, für viele junge Palästinenserinnen ein Vorbild gewesen: «Ich kenne, als sie aufgewachsen sind, zahlreiche Mädchen, die vor dem Spiegel standen, ihre Haarbürste hielten und vorgaben, Shireen zu sein. So nachhaltig und wichtig war ihre Präsenz.» Einer anderen Freundin zufolge war Shireen Abu Akleh die Stimme Palästinas: «Sie ist die Stimme unserer Leiden unter der Besatzung. Sie ist die Stimme unseres Hungers nach Freiheit.»
Politischer Zwist
Linda Thomas-Greenfield, die amerikanische Uno-Botschafterin, nannte Shireen Abu Aklehs Tod «erschreckend». Sie habe nur ihren Job getan, sagte die Diplomatin: «Wir müssen sicherstellen, dass wir ihrer Tötung auf den Grund gehen.» Die Journalistin hatte auch einen amerikanischen Pass. Der israelische Uno-Botschafter Gilad Erdan dagegen teilte mit: «Ihr Tod ist eine Tragödie, aber niemand sollte ihn für politische Zwecke missbrauchen, vor allem jene nicht, die Menschenrechte auf täglicher Basis missbrauchen.»
Laut der NGO «Reporter ohne Grenzen» sind seit Anfang Jahr 27 Medienschaffende in Ausübung ihres Berufes getötet worden, unter ihnen sieben in der Ukraine und acht in Mexiko. 2022 wird wohl zu einem der tödlichsten Jahre für Journalistinnen und Journalisten werden.
Quellen: Al Jazeera, New York Times, Washington Post, CNN, BBC, Poynter