«Das wird mit Präsident Tucker Carlson enden», überschreibt das Magazin «The Atlantic» diesen Monat einen Bericht aus London über Journalisten, die in die Politik gehen. Unter Verweis auf Premier Boris Johnson warnt Autorin Helen Lewis die USA, Journalisten Politiker werden zu lassen. Johnson, der seine Laufbahn als Pressemann begann, war seinerzeit von der «Times» entlassen worden, weil er ein Zitat gefälscht hatte. «Journalisten», weiss Lewis, «sind als Politiker gefährlich, weil sie sich aus allem herausreden können, ein Auge für einen packenden Satz sowie ein ansprechendes Narrativ haben und wissen, wie sie eine Masse für sich gewinnen können.»
Die britische Tradition, dass Journalisten in die Politik gingen, sei alles andere als vorbildlich, argumentiert die Autorin und zitiert Reporter Nick Tomalin, der 1973 während des Jom-Kippur-Krieges ums Leben kam und einst bemerkt hatte: «Die einzigen Qualitäten, die es braucht, um im Journalismus wirklich Erfolg zu haben, sind rattenartige Cleverness, ein annehmbares Benehmen und ein wenig literarisches Talent.» Nick Tomalin, meint Helen Lewis, sei viel zu höflich gewesen: «Das Motto des Journalisten könnte heute ebenso gut lauten: ‘Nun, davon habe ich keine Ahnung, aber gib’ mir 30 Minuten und ich werde wie ein Experte tönen.’»
Drei Millionen Zuschauer
Zumindest wie ein Experte zu tönen, beherrscht Tucker Carlson aus dem Effeff. Seine Sendung «Tucker Carlson Tonight» auf Fox News ist Amerikas beliebteste Show auf Kabel und zieht im Schnitt ein Publikum von rund drei Millionen an, viel mehr als die Konkurrenz bei CNN oder MSNBC. Derweil erreichen seine Videos auf YouTube Dutzende Millionen. «Er ist ein talentierter Kommunikator mit einer riesigen Bühne», sagt der republikanische Berater Luke Thompson: «Ich meine, er wäre beeindruckend, falls er antritt.»
Jedenfalls glauben in den USA etliche Vertreter der republikanischen Partei, Tucker Carlson sei wie kein zweiter geeignet, Donald Trumps Erbe anzutreten und dessen Agenda – laut «Politico» fremdenfeindlicher Nationalismus, ökonomischer Populismus und «America First»-Isolationismus – weiterzuführen und in den parteiinternen Vorwahlen als Favorit anzutreten. «Falls er politische Ambitionen hegt, hat er eine Chance», sagt der konservative Autor Rich Lowry: «Er hat eine Anhängerschaft und einen Hang zu Kontroversen. Er ist smart, ein schneller Denker und umgänglich. Politische Erfahrung zählt nicht mehr so viel wie früher.»
Der mächtigste Konservative
Tucker Carlson selbst hat sich bisher noch um kein politisches Amt beworben und macht zumindest vorläufig kein Hehl aus seiner Abneigung gegenüber einer Präsidentschaftskandidatur: «Das scheint mir der unglücklichste Job zu sein, den einer haben kann. Ich habe keinen diesbezüglichen Ehrgeiz. Ich bin überhaupt nicht daran interessiert, von Leuten geliebt zu werden, die ich nicht kenne.»
Gleichzeitig schätzt aber eine Autorin des Magazins «TIME», Carlson sei derzeit Amerikas mächtigster Konservative. Sie zitiert Jeff Roe, einen republikanischen Strategen, der 2016 den Wahlkampf von Ted Cruz geleitet hat: «Keiner – gar keiner – hat in der republikanischen und konservativen Politik mehr Gewicht als Tucker Carlson. Er reagiert nicht auf eine Agenda, er bestimmt die Agenda. Er ist der Goldstandard republikanischen Denkens.»
Geschwächte Republikaner
Tucker Carlson spielt die Rolle als Hoffnungsträger von Republikanern zu einem Zeitpunkt, da die Grand Old Party (GOP) geschwächt ist. Sie hat 2020 das Weisse Haus und die Mehrheit im Kongress verloren, wofür Carlson die Republikaner selbst verantwortlich macht: «Zuallererst sind sie unfähig und schlecht im Regieren. Die Partei ist als oppositionelle Kraft viel effektiver denn als Regierungspartei.»
Carlson kritisiert zum Beispiel, dass es die GOP nicht für nötig befunden hat, für die jüngste Wahl eine Plattform zu entwerfen, was für ihn politischer Verantwortungslosigkeit gleichkommt: «Das ist meines Erachtens schändlich. Was bringt es, einen Parteikongress oder überhaupt eine politische Partei zu haben, wenn du dich nicht darum kümmerst, zu definieren, wofür du stehst? Ich fand das verachtenswert.»
Die Anliegen Mittelamerikas
Über Donald Trump selbst hatte er sich bereits 1999 in einem Interview geäussert, das sich um die Möglichkeit einer Kandidatur des New Yorkers für die Reform Party drehte: «Sie haben es gesagt: Er ganz allein ist die widerlichste Person auf dem Planeten (…) Schrecklich wie er ist (oder vielleicht ist er gar nicht so schrecklich), Trump ist interessant, oder mindestens so interessant wie die meisten Kandidaten». Die Frage heute, ob Trump 2024 wieder kandidieren solle, mag Carlson nicht beantworten: «Ich weiss es nicht.»
Tucker Carlsons Äusserungen sind nicht eben, was man von einem zu hören erwartet, den die Republikaner wie keinen zweiten als einen der ihren betrachten. Dass seine Kritik die Wählerschaft der GOP nicht allzu stark irritiert, hängst damit zusammen, dass er in seiner abendlichen Fernsehsendung und bei anderen Auftritten am Bildschirm jene Anliegen vertritt, die ihr am Herzen liegen. Carlson, diagnostiziert die «Washington Post», sei heute das lauteste Sprachrohr des zornigen «weissen Amerikas», das sich gegen Einwanderung wehrt, die Existenz von Rassismus im Lande leugnet und die Forderung nach mehr Diversität in der Gesellschaft für überflüssig hält.
Der Plan des Bevölkerungsaustauschs
«Wenn du in Amerika aufgewachsen bist, sieht unvermittelt nichts mehr gleich aus», schreibt Tucker Carlson in seinem Buch «Das Narrenschiff», das 2018 erschienen ist: «Deine Nachbarn sind andere. Ebenfalls die Umgebung und die Bräuche und oft auch die Sprachen, die du auf der Strasse hörst. Unter Umständen erkennst du deinen Heimatort nicht wieder. Die Menschen sind dafür nicht geschaffen. Sie können einen so raschen Wechsel nicht verdauen.»
Andrew Anglin, Gründer der Neo-Nazi-Website «The Daily Stormer», nennt Carlson wegen dessen ablehnender Haltung in Sachen Einwanderung «unseren buchstäblich besten Verbündeten.» Der Fernsehmoderator ist ein Anhänger der «replacement theory», wonach einem Geheimplan zufolge muslimische oder nicht-weisse Einwanderer ins Land geholt werden, um die angestammte weisse Mehrheitsbevölkerung zu ersetzen. Auch glaubt Carlson, dass Amerikas herrschende Klasse die angebliche Rassenungleichheit im Lande instrumentalisiert, um ihre Macht zu stärken, statt auf die Ungleichheit der Klassen zu fokussieren: «Ich glaube, es ist eine Verschwörung gemeinsamer Interessen und Temperamente.»
Gefährliche Volatilität
Auf jeden Fall, ist Tucker Carlson in einem Interview mit dem «Playboy» überzeugt, würden in den USA «zu 99 Prozent» die falschen Themen diskutiert: «Unter dem Strich stirbt die Mittelklasse. Das macht das Land politisch volatil, und Volatilität zerstört, was du willst. Du willst stabile, glückliche Institutionen, die von stabilen, glücklichen Leuten belebt werden. Volatilität bewirkt das Gegenteil. Sie zerstört die Institutionen und macht die Leute verrückt. Und woher kommt diese Volatilität? Sie beruht auf ökonomischer Ungleichheit.»
In seiner Sendung gibt sich Tucker Carlson als Meister der gezielten Provokation. Zwar tönt er seine Überzeugungen häufig nur an, aber dies auf eine Art und Weise, die sein Publikum sehr wohl versteht. Er behaupte nichts, sagt er, er stelle nur Fragen, jene Fragen, die viele Leute nicht mehr zu stellen wagten. Doch diese Fragen beantwortet er nicht im Klartext, sondern impliziert unausgesprochen, was er wirklich sagen will. Was ihn bis zu einem gewissen Grad unangreifbar macht, wobei aber diese Taktik, je nach Thema, unterschiedlich gut funktioniert.
Eine behütete Herkunft
Oder auch gar nicht, wie 2006, als er aus der Rolle fiel und sich am Radio in der rechten Talk Show «Bubba The Love Sponge» unter anderem zum Thema Irak äusserte. Die Iraker, sagte Carlson, würden sich nicht «wie menschliche Wesen verhalten», er habe null Sympathie für sie oder ihre Kultur, «eine Kultur, wo die Leute weder Toilettenpapier noch Gabeln benutzen». Die Iraker seien «halbgebildete, primitive Affen», die «einfach nur die Schnauze halten und den USA gehorchen» sollten, weil sie sich nicht selbst regieren könnten.
Tucker Carlsons Herkunft hätte nicht vermuten lassen, dass er dereinst zur «Vox populi», zum Sprachrohr des kleinen Mannes in Amerika werden würde. Er stammt aus einer begüterten Familie (seine Stiefmutter ist Erbin eines Konzerns, der gefrorene TV-Essen verkauft), ist mit einem Bruder im exklusiven La Jolla bei San Diego aufgewachsen, hat Privatschulen besucht, ist selbst Multimillionär und besitzt mehrere Häuser. Sein Vater Richard leitete den staatlichen Radiosender «Voice of America», war US-Botschafter auf den Seychellen und präsidierte die Corporation für Public Broadcasting. Seine leibliche Mutter, ein Freigeist, verliess die Familie, als er sechs Jahre alt war, und starb später allein in Frankreich. Tucker ist mit seiner Jugendliebe verheiratet, das Paar hat vier Kinder, die Familie wohnt in Washington DC. Er gilt als sehr religiös und lehnt Abtreibungen strikt ab.
Kein Glück bei der CIA
Nach dem College, wo er nach allgemeinem Bekunden ein zwar trinkfester, aber lausiger Student war, bewarb sich Tucker Carlson bei der CIA, die ihn aber, da wohl zu aufsässig und zu geschwätzig, nicht anstellen mochte. «Geh in den Journalismus», riet ihm deshalb sein Vater: «Die nehmen jeden.» Der junge Tucker beherzigte den Rat und begann für diverse konservative Publikationen zu schreiben, was er früheren Kollegen zufolge sehr witzig und originell tat.
Er gründete die rechte Website «The Daily Caller», die bald wieder einging, und begann bei CNN und MSNBC erste Fernseherfahrung zu sammeln. Bei CNN war er in der Sendung «Crossfire» zusammen mit Clinton-Mitarbeiter Paul Begala Teil eines Duos, welches das aktuelle Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven kommentierte: Carlson von rechts, Begala von links. Die Sendung erlangte vorübergehende Berühmtheit, als der populäre TV-Komiker Jon Stewart den beiden Moderatoren vorwarf, ihr Gezänk schade Amerika: «Ihr spielt Theater, während ihr Debatten führen solltet.» Drei Monate später setzte CNN «Crossfire» ab.
Unbegründete Vorwürfe
2009 begann Tucker Carlson für Fox News zu arbeiten, die dem konservativen Medienmagnaten Rupert Murdoch gehören. Im November 2016, kurz nach der Wahl von Donald Trump, erhielt er seine eigene Sendung, die heute zur besten Sendezeit ausgestrahlt wird und für seinen Arbeitgeber prächtig rentiert, obwohl nach kontroversen Äusserungen Carlsons gelegentlich Inserenten abspringen.
Milder ist der 52-Jährige keinesfalls geworden. So hat er im Juni behauptet, der Geheimdienst National Security Agency (NSA) hätte ihn abgehört und seine Mails gelesen, nachdem er lediglich versucht habe, Vladimir Putin für ein Interview auf Fox News zu gewinnen. Die NSA, so Carlson, wolle seine Sendung killen, eine Behauptung, die Teile seiner Anhängerschaft umgehend als Beweis dafür interpretierten, Präsident Joe Biden wolle politische Gegner ausschalten.
FBI-Agenten angeblich Provokateure
Zuvor hatte Tucker Carlson die Verschwörungstheorie verbreitet, FBI-Agenten hätten mitgeholfen, am 6. Januar 2021 den Sturm auf das Capitol in Washington DC zu organisieren, eine Version der Ereignisse, die republikanische Parlamentarier inzwischen dankbar übernommen haben. Und jüngst hat er Mark A. Milley, den Vorsitzenden des US-Generalstabs, «ein Schwein» genannt. Der Grund? Der Vier-Sterne-General hatte in einer Anhörung vor dem Militärausschuss des Abgeordnetenhauses berichtet, die Militärakademie in West Point biete einen fakultativen Kurs an, der über die von Tucker Carlson verachtete «Critical Race Theory» (CRT) und «Weisse Wut» informiere.
CRT ist ein über 40-jähriges akademisches Konzept, dessen Kerngedanke stipuliert, dass Rasse ein soziales Konstrukt und Rassismus nicht nur das Produkt individueller Vorurteile ist, sondern auch in Justiz und Politik wurzelt. Dagegen hat ein Gast in Carlsons Show vor Kurzem unwidersprochen behauptet, das amerikanische Militär kenne seit fast 200 Jahren «eine völlig farbenblinde Kultur». In Wirklichkeit ist die US-Armee erst vor 73 Jahren auf Geheiss von Präsident Harry S. Truman segregiert worden.
Tucker Carlson bleibt umstritten. Die Zahl seiner Fans ist so gross wie die seiner Gegner. Er ist einer jener Rechten, die Linke zu hassen lieben, und der es seinerseits liebt, Linke zu provozieren. Derweil fragen sich unaufgeregte Gemüter, ob Carlson stets meint, was er sagt, oder sagt, was er meint. Sie halten ihn für zu intelligent, um zu glauben, was er öffentlich vertritt. Oder für zu berechnend, um sich privat in die Karten schauen zu lassen. Carlson selbst sagt, er sei fünf Stunden pro Woche live zu sehen. Die Leute würden es umgehend merken, falls er nicht echt wäre: «Fernsehen verrät, wer du wirklich bist.»