Wer findet Mozarts «Die Zauberflöte» nicht ein ideales Thema für das Musiktheater? Aber auch der mit Motiven der Schauerromantik operierende «Freischütz», Wagners Vertonung der Legende vom «Fliegenden Holländer», Humperdincks «Hänsel und Gretel» oder noch im 20. Jahrhundert «Die Frau ohne Schatten» von Hofmannsthal und Strauss sind Stoffe, die in der Opernwelt einen eigenartigen Reiz ausüben und für nicht vergehende Anhängerschaft sorgen.
Allen diesen Werken – und vielen anderen mehr – ist gemeinsam, dass sie vertraute Realität, soziale, ökonomische und politische Gegebenheiten für die Bühne durch Wunsch- und Traumwelten kontrastieren. Dadurch erscheinen reale Verhältnisse auf einmal nicht wie die ewig gültige und immer hinzunehmende Unabänderlichkeit, sondern wie ein Schicksal, das durchbrochen werden kann und muss, weil es gute Alternativen zur bösen Realität gibt.
Russlands Realgeschichte und die Märchen
Die politische und soziale Geschichte Russlands ist zwar ebenso wie andere «Nationalgeschichten» eingebettet in einen europäischen Kontext, hier aber spielen seit dem Mittelalter auch noch orientalisch-asiatische Elemente eine entscheidende Rolle. Im russischen Zarenreich wurden die vielfältigsten Völker und Ethnien vereinigt und zueinander gefügt. So kamen Erzähltraditionen aus einem Riesenreich zusammen, in welchen die erstaunlichsten «Auswege» aus Not, Hunger, Armut und Unterdrückung ersonnen und fabuliert wurden.
Interessanterweise ist Russland überaus reich an sogenannten «Tiermärchen», die es gestatteten, listig und heimlich Kritik an bestehenden Machtverhältnissen zu üben, ohne direkt Zaren und Bojaren, Patriarchen und Popen, Generäle und betrügerische Profiteure bei ihren echten Namen nennen zu müssen. Ein Märchen macht es der Zensur und der Polizei schwerer, unliebsame und gefährliche Gedanken zu behindern und Aufwiegler und Revolutionäre hinter Schloss und Riegel zu bringen. Verstanden hat man den Witz und die Bosheit der Tiermärchen dennoch, vor allem: wem ihre Kritik und ihr Hohn galten.
Zu den bekanntesten Tiermärchen Russlands gehören «Der Feuervogel» und «Der Goldene Hahn». Strawinski hat aus dem ersten im Jahr 1910 ein bis heute hinreissendes Ballett gemacht. Sein Lehrer Rimski-Korsakow, dem die russische Märchentradition lebenslang eine Herzensangelegenheit war, benützte bereits wenige Jahre zuvor das Märchen vom «Goldenen Hahn» als Stoff seines letzten abgeschlossenen Bühnenwerks. Komponiert hat er es in den Jahren 1906 und 1907.
Die Zensur verhinderte auch bei diesem Märchen, dass die Oper nach ihrer Entstehung gleich aufgeführt werden konnte. Rimski verfügte, dass das Werk nur vollständig, mit Prolog, den ungekürzten drei Akten und dem Epilog, gezeigt werden dürfe. Der Komponist starb 1908, das Werk wurde in Russland erst im Herbst 1909 gezeigt, zuerst in einem Moskauer Privattheater, kurz darauf aber doch auch am Bolschoi. Weltweit berühmt wurde «Le Coq d’Or» jedoch nach der glanzvollen Aufführung von 1914 als «Ballett-Oper» im Palais Garnier in Paris durch die «Ballets Russes» in einer Choreographie von Michel Fokine. Heute gilt das Werk als eine der vollkommensten Märchenopern des frühen 20. Jahrhunderts.
Der erbärmlich hilflose Zar Dodon
Das erweiterte Libretto zu dem 1834 von Puschkin gedichteten Märchen vom goldenen Hahn (Originaltitel: «Zolotoy petushok») schrieb der Schriftsteller Vladimir Belsky. Es erzählt die Geschichte vom alternden Zaren Dodon, der müde, schläfrig und hochbesorgt darüber ist, dass Feinde hereinbrechen und sein Reich bedrohen und dieses ihm rauben könnten. Ein Astrologe beschafft ihm einen goldenen Hahn auf der Zinne des Zarenpalastes, der ihn kreischend und flügelschlagend warnen soll, wenn immer aus je einer Himmelsrichtung seiner Herrschaft Gefahr drohen soll. Die Belohnung für sein Warnsystem will der weise Erfinder und Himmelskundige sich erst später holen.
Drei Mal warnt der Hahn, sich nach Osten wendend, über nahende kriegerische Gefahren. Die ersten beiden Male schickt der Zar seine zwei Söhne mit einem Teil seiner Soldaten los, um die Gefahr abzuwehren, hört danach aber nichts über deren Los. Beim dritten Warnruf des Hahns zieht der Zar selbst mit dem Rest seiner Armee missmutig gegen Osten, um das Unheil abzuwehren.
In einer Schlucht entdeckt er seine toten Soldaten und seine beiden toten Söhne, die sich gegenseitig umgebracht zu haben scheinen. Aus dem Nebel taucht ein Zelt auf, an dessen Eingang die Königin von Schemacha erscheint, betörend schön, unwiderstehlich reizvoll. Es stellt sich heraus, dass die beiden Zarensöhne sich ihretwegen gegenseitig umgebracht haben. Nun aber ist der Zar selbst und dessen Reich das Objekt ihrer Begierde. Dodon ist ihrem Zauber vollkommen ausgeliefert. Er bietet der fremden Königin sich selbst und sein Land an. Er will mit ihr ins Zarenreich ziehen, um dort Hochzeit zu feiern.
Zurück im Zarenreich taucht aber auch der Astrologe wieder auf. Für den goldenen Hahn verlangt er als Lohn Königin Schemacha. Sein halbes Reich will der Zar ihm geben, die Königin aber in keinem Fall. Mit seinem Herrschaftsstab erschlägt Dodon den Astrologen. Da zieht ein fürchterliches Gewitter auf, der goldene Hahn stürzt auf den Zaren los und zerhackt ihm den Schädel, dass er tot umfällt. Das Volk sieht dem Geschehen fassungs- und verständnislos zu. Im Epilog erscheint der wiederauferstandene Astrologe noch einmal und gibt dem Publikum den Rat, das Erlebte nicht ganz ernst zu nehmen: «Nur ein Märchen wars, nicht mehr / Doch seis manchem eine Lehr!»
Der Sonnenhymnus der Königin
Eine der berühmt gewordenen Szenen dieser Märchenoper ist im 2. Akt der Augenblick, wo Königin Schemacha als Verkörperung sinnlicher Schönheit und Verführung aus ihrem Zelt tritt und eine Hymne an die Sonne anstimmt, bevor sie jenen Tanz anführt, in welchem eine orientalische Siegesorgie der Sinnlichkeit und Schönheit über alle Herrschaftsmächte dieser Welt gefeiert wird. Der Zar mit seinem Herrschaftsgehabe, seiner Armee und seinem Hofstaat wird nach allen Regeln der Kunst der Lächerlichkeit und der Nichtigkeit preisgegeben. Was zählt ist erlebte Schönheit und Lust, alles andere ist Einbildung und Wahn.
Die wahre Heimat sei das Land der Träume, in welcher die Strahlen der Sonne die Rosen und die Feuerlilien küssen würden. Der Traum einer verbotenen Liebe sei das, was die Menschen in Atem halte, verstohlene Blicke, dunkelblau umhüllte Schleier der Nacht, zärtliche Worte auf den Lippen, ohne Angst und ohne Scham: das sei es, was den Zauber des Lebens ausmache. «Ich bin eine freie Frau, die Königin, die ohne Heere siegt!» singt Schemacha. «Wer hat die Macht, auf meiner Trauminsel meinem Herzen Grenzen zu setzen?»
Rimski-Korsakow hat alles an orchestralem Farbenglanz, an chromatischem Zauber und an stimmlichem Raffinement aufgeboten, um der Lebensphilosophie dieser orientalischen Königin gerecht zu werden. Es schlüpft, schlittert und schleimt durch Tonarten, Halbtöne und Stimmlagen nur so dahin, bis daraus nach und nach ein Tanzrhythmus entsteht, dem sich alles fügt und der sich als eine alles durchpulsende Lebenskraft entpuppt.
Auch wenn am Ende sich der Zauber nur als ein Märchen herausstellt: Man muss diese Prägekraft eines vertonten Märchens einmal hörend erlebt haben. Die «Hymne an die Sonne», die ein Hymnus ans wahre und an das wirklich geltende Leben ist, singt hier die junge russische Sängerin Aida Garifullina. Die Aufnahme entstand 2017 aus Anlass des Semper Opernballs in Dresden. Begleitet wird die Sängerin vom MDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Kristjan Järvi.
Aida Garifullina: «Hymne an die Sonne»
https://www.youtube.com/watch?v=EVPOYAr84Bg