Kein Schweizer Beitrag ist nachhaltiger als die kritische Begleitung des Nationalparks in den Simen Bergen durch schweizerische Forscher.
Um einleitend an einen unrühmlichen Beitrag zu erinnern: Kaiser Theodoros (1855 -1868), verschnupft darüber, dass Königin Victoria seinen Brief nicht beantwortet hatte, nahm die europäischen Missionare in Äthiopien in Geiselhaft und zwang den Basler Quäker-Missionar Theophilus Waldmeier dazu, in Erwartung einer britischen Strafexpedition, einen Mörser grösser als jeden andern vor ihm zu giessen. Waldmeier, der bis dahin allenfalls Kirchenglocken gegossen hatte, lieferte dem Herrscher einen Monstermörser. Dieser wurde 1868 gegen die anmarschierenden englisch-indischen Truppen in Stellung gebracht – und zerbarst schmählich beim ersten Schuss. Theodoros gab sich den Tod. Aber das Jahrhundert schloss für die Schweiz verdienst- und ruhmvoll. Der Thurgauer Ingenieur Alfred Ilg bugsierte als Vertrauter Kaiser Meneliks II. und als sein Aussen- und Staatsminister das Land in die Neuzeit; an der Sicherung der äthiopischen Souveränität in dem Sieg über die italienischen Invasionstruppen bei Adua 1896 war er aktiv beteiligt.
Die Simen Berge, das Dach Äthiopiens, sind von Adua keine hundert Kilometer entfernt. Sie haben auch in Äthiopien, das keineswegs arm ist an dramatischen Berglandschaften, nicht ihresgleichen: vulkanische Stöcke und Beulen auf einem Hochplateau, dessen Ränder die Erosion in ein Labyrinth von Klippen, Klammen und Kreten, Schroffen und Schluchten zerfranst. Als tropische Gebirgswildnis in einem Grenzgebiet zwischen zwei Faunen- und Florenreichen ist Simen vermutlich sogar weltweit ein Unikat. In diesem grandiosen Habitat leben die letzten Waliasteinböcke (Capra walie) – nebst weiteren schutzbedürftigen Arten wie dem Äthiopischen Wolf und dem Dschelada-Bergpavian. Noch das kaiserliche Äthiopien grenzte 1969 in Simen (geschätzte) 220 Quadratkilometer als Nationalpark aus. 1978, unter der Militärdiktatur, nahm die Unesco den Park (gleichzeitig mit Galapagos und Yellowstone) in das Welterbe auf.
Die schweizerischen Bemühungen um den Park begannen noch vor seiner Gründung. Anfangs war die Beziehung gewissermassen von Steinbock zu Steinbock. Der Wildbiologe Bernhard Nievergelt, der über den Alpensteinbock dissertiert hatte, erarbeitete mit einer Untersuchung über den Waliasteinbock in seinem Lebensraum die Grundlage zum Park. Zu dessen Unterstützung regte er in der Schweiz die „Stiftung Pro Semien“ an. Angeschrieben wurden zuerst Städte und Gemeinden mit Steinböcken im Wappen; der vormalige Churer Stadtpräsident versah langjährig den Vorsitz. Ein anderer Churer wurde der erste Chefwildhüter. Steinböcke über Steinböcke...Nicht ihnen allein galt die Aufmerksamkeit der Schweizer Forscher. Der Geograph Hans Hurni befasste sich mit Simens Problem Nummer eins: dem Raubbau am Boden. Der Geobotaniker Frank Klötzli würdigte Simens Pflanzengesellschaft als afroalpines Ökosystem.
Professor Hans Hurni, nunmehr Präsident des interdisziplinären Zentrums für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt an der Universität Bern, und Bernhard Nievergelt, jetzt Professsor emeritus des Zoologischen Instituts der Universität Zürich, blieben und bleiben dran. Sie kehren regelmässig zu Feldforschungen und Begutachtungen nach Simen zurück.
Bernische Nachmessungen schrumpften den Park zunächst um fast ein Dritttel des urspünglich geschätzten Werts auf noch 136 Quadratkilometer. Zurzeit sind neue Grenzen angesagt, die die Parkfläche verdreifachen. Neu eingebunden werden namentlich Hochlandteile – Alpweiden und assortierte Viertausender. Von den tiefsten Tallagen um 1700 m steigt der Park daher jetzt bis zu Äthiopiens höchstem Gipfel, dem Ras Dedschen (4533 m), an. Die dritte Auflage der Karte, die das Geographische Institut der Uni Bern in einer Demonstration meisterhafter helvetischer Kartographie für Simen-Wanderer schon l981 anfertigte, verzeichnet bereits die neuen Grenzen.
Als Mahner und Warner nerven Hurni und Nievergelt ihre äthiopischen Ansprechpartner manchmal ganz schön. Der Augenschein, den sie im Auftrag der Unesco 1996 in Simen vornahmen, katapultierte den Park auf die Rote Liste des gefährdeten Welterbes. Die Gutachter hofften so mehr internationale Hilfe zu mobilisieren. Die äthiopischen Behörden empfanden es indes als Strafversetzung, die sie der Unesco und den Gutachtern übel nahmen. Wie kann ein Park krank sein, wenn die Zahl der Besucher (jetzt gegen 20 000) jährlich zunimmt? Dafür, dass Biologen solche Zahlen eher mit einem Seufzer quittieren, haben sie wenig Verständnis.
Der Park ist krank; er wird der Roten Liste nicht so bald entrinnen. Seine Geburtsfehler – die Existenz von Siedlungen mit Ackerbau und Weidewirtschaft innerhalb der Parkgrenzen – sind nicht leicht zu kurieren. Um den Ackerbau zurückzufahren, müssen möglichst viele Bauern in die Pufferzonen des Parks ausgesiedelt werden – die Einsicht dazu ist da, sogar der Wille, die Bauern für ihren Verlust zu entschädigen, aber die getroffenen Massnahmen greifen nur langsam und zu kurz. Immerhin fehlen Erfolgserlebnisse nicht ganz: Hurni brachte die Behörden dazu, ein in einem wichtigen Wildtierkorridor entstandenes Neudorf abzubrechen und einige Kilometer entfernt wieder aufzubauen. Notwendig wäre auch eine radikale Verminderung der Beweidung durch Rinder, Maultiere, Esel, Schafe, Ziegen, Pferde. Eine Rekognoszierung Anfang 2012 alarmierte Nievergelt. Überweidung auf dem Gich-Plateau hatte das dynamische Ökosystem einer natürlichen afroalpinen Bergsteppe, in Nievergelts Worten, „zu einem gleichförmigen und eher armen Grasland trivialisiert“. Mit schmerzlichen Einbussen der Biodiversität: ein Dutzend Kleinsäuger-Arten, wovon die Hälfte endemisch, waren verschwunden. Um die Bergsteppe zu revitalisieren, müsste der Weidebetrieb radikal eingeschränkt werden.
Gut geht es den Steinböcken. 500 (in der vorsichtigen Schätzung der Biologen) bis 1000 Tiere (nach vielleicht überoptimistischen amtlichen Angaben) leben zurzeit im und ausserhalb des Parks. Eine grosse Zahl ist aus dem angestammten Habitat der Steilhänge und Bergklippen in die Nähe einer neuen Strasse an der Parkgrenze, die von Lastwagen und Touristenfahrzeugen genutzt wird, umgezogen. Nievergelt stellt mit Genugtuung fest, dass der Steinbock, und das gilt nicht nur für Capra walie, ein gelehriges Tier ist. Die Steinböcke gedeihen in Strassennähe, den Fotojägern preisgegeben, aber im offenen Gelände von Leoparden und ihren Erzfeinden, den Wilderern, verschont. Das permanente Sichern nach allen Seiten, das kräftezehrende unentwegte Aufschauen beim Äsen entfällt. Für den Steinbock, einen Pflanzenfresser, der mit karger Nahrung auskommt, aber dafür pro Tag fünf oder mehr Stunden reine Fressenszeit einsetzen muss, ist ungestörte Ruhe eine überlebenswichtige Ressource. – Jahr des Flugbilds: 1965 (Copyright Georg Gerster/Keystone)