Indien ist ein Trapezkünstler in Sachen politische Stabilität. Jede politische Krise endet jeweils im sicheren Netz der Demokratie. Umso dramatischer sieht das Bild bei den Nachbarn aus. Der freie Fall in die politische Instabilität endet für manche auf dem Boden und man muss befürchten, dass sie sich nicht mehr aufrappeln können.
In Sri Lanka scheint dies, nach der Vertreibung des Bonapartisten Rajapakse, zu gelingen. Es ist ein Zeichen, dass das Land trotz dynastischen Versuchungen und einem mörderisch langen Bürgerkrieg inzwischen eine gesunde demokratische Tradition entwickelt hat. Bei Pakistan dagegen ist das demokratische Netz so schwach gesichert, dass sich das Land immer wieder auf dem Boden von Militärherrschaft und Sharia landet und sich damit mehr schlecht als recht abgefunden hat.
„Hahnenkampf“ in Bangladesh
Doch wie steht es mit den anderen Nachbarn – Bangladesch, Nepal, den Malediven? Alle Drei hatten sich nach der weltweiten demokratischen Revolution von 1989/90 aufgemacht, ihre autokratischen Ketten abzuschütteln. 25 Jahre später ist es noch keinem von ihnen gelungen. Sie bezeichnen sich als Demokratien, doch deren Institutionen stehen auf denkbar schwachen Füssen.
Die grösste Enttäuschung ist ohne Zweifel Bangladesch. Dessen säkulare Demokratie ging aus einem klassischen nationalen Befreiungskrieg hervor. Doch das Experiment endete bereits vier Jahre später in Meuchelmord und Militärherrschaft. Die Revolution von 1989 löste eine neue demokratische Bewegung aus, mit dem seltenen Bild eines islamischen Landes, in dem die bestimmenden Parteien von Frauen angeführt wurden. Doch statt den Spielregeln eines parlamentarischen Wettkampfs zu folgen, fielen die beiden in eine generationenlange hasserfüllte Rivalität, für die man normalerweise eine maskuline Metapher – den Hahnenkampf – zur Hand nimmt.
Illiberaler als je zuvor
Die Gewinner waren die Islamisten, die Verliererin die Demokratie. Zwar nehmen im prächtigen Parlamentsbau von Louis Kahn immer noch gewählte Parteien Einsitz, doch seit sieben Jahren sind die Oppositionsbänke nun leer. Und trotz einer Verfassung mit den Grundsätzen Demokratie, Sozialismus und Säkularismus (der letztere vor vier Jahren wieder eingeführt) ist das Land heute, in den Worten des Historikers Mubashahar Hasan, illiberaler als je zuvor – und dies schliesst die lange Militärdiktatur mit ein.
Die regierende Awami-Liga versucht die politische Energie vieler Bangalen vom Lockruf einer islamistischen Ordnung abzulenken. Sie tut dies mit einer Rückkehr zum Befreiungskrieg, indem sie die Islamisten als Quislinge anklagt und mit fragwürdigen Rechtsmitteln an den Galgen bringt. Dabei toleriert sie selbst eine von ihrem eigenen Studentenverband inspirierte Lynchjustiz. Doch wenn es darum geht, liberale Bürger vor Racheakten der Islamisten zu schützen, versagt sie. Der brutale Mord am Blogger Avijit Roy – einem naturalisierten US-Bürger – konnte oder wollte sie nicht verhindern, obwohl der mutmassliche Attentäter Roys Ermordung in der Blogosphäre wiederholt angekündigt hatte.
Nepal: verflogene Euphorie
Auch in Nepal ist die Euphorie nach dem Ende des maoistischen Bürgerkriegs und der Vertreibung des Königs längst verflogen. Sieben Jahre nach der Zusammenkunft der ersten verfassunggebenden Versammlung besitzt das Land immer noch kein Grundgesetz. Die beiden ‚sozialdemokratischen’ Parteien – Nepali Congress und die KPN(UML) – verfügen nach der Wahl einer zweiten Verfassungsversammlung 2013 zwar über eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Doch die Maoisten und die Autonomisten anerkennen die Wahlresultate von 2013 nicht, drohen mit neuem Volkskrieg und offenem Separatismus.
Der zehnjährige Bürgerkrieg und die Vertreibung des Königs haben zu einer Stärkung partikularistischer Identitäten geführt, die nun alle Schutz und Rechte einfordern. Die Terai-Bevölkerung der Ebene entlang der Grenze zu Indien will sich von der Dominierung durch die Berg-Kasten (namentlich aus dem Kathmandu-Tal) befreien und fordert autonome Provinzen. Doch die zweite Wahl von 2013 zeigte, dass der Terai ebenfalls von vielen Identitätsbrüchen geprägt ist – mehreren Sprachgruppen, einer grossen Zahl von Muslimen, und armen Hügelstämmen wie den Tharu, die schon lange in der Ebene siedeln. Sie alle fordern, dass ihre Rechte im politischen System gesichert werden.
Zersplitterung der nationalen Identität
Diese Zersplitterung hat sogar den Monarchisten wieder Auftrieb gegeben. Sie wollen die Etablierung einer säkularen Republik verhindern, wobei ihr Akzent vorsorglich auf dem Wort ‚säkular’ liegt. Sie propagieren einen Hindu-Staat, unterstützt durch die Hindutva-Ideologen von jenseits der Grenze (dass der König als Inkarnation Vishnus dann wieder zum Zug käme, verschweigen sie im Augenblick). Allerdings wollen die zahlreichen animistischen Hindu-Traditionen in den Himalayatälern mit dem ‚Monotheismus’ einer staatlich verordneten religiösen Ideologie nichts zu tun haben.
Historische Prozesse halten sich nicht an journalistische Deadlines und an die Geschwindigkeit technologischer Informationsflüsse. Insofern ist die Auseinandersetzung in Nepal eine reale und ernsthafte; sie lässt sich nicht über Nacht lösen. So sehr die Politiker den Anschein geben, es gehe ihnen nur um ihre Haut, vertreten sie auch widerstrebende und doch legitime Ziele ihrer Wähler. Doch mit der Zersplitterung der nationalen Identität – sie ist immerhin 250 Jahre alt – steigt auch das Risiko einer Balkanisierung und permanenter Kleinkriege. Sie würden das Hauptziel des Staats – die Bekämpfung der Armut – noch mehr erschweren. Es sind nun bald zehn Jahre her, seit das Land keine funktionsfähige Regierung mehr hat.
Malediven: keine demokratische Zeitwende
Wenn es im Olymp der Berggottheiten drüber und drunter geht, erstaunt es nicht, dass auch dem Südsee-Paradies der Malediven Ähnliches widerfährt. Auch dort hatte sich eine demokratische Bewegung gegen ein autokratisches Regime erhoben. Allerdings geschah es erst 2008, anderthalb Jahrzehnte nach der demokratischen ‚Zeitenwende’ – Zeit genug für den langjährigen Diktator Abdul Gayoom, seinen Abgang gut vorzubereiten. Er sicherte sich die Unterstützung der Armee; er besetzte Schlüsselstellen der Justiz mit Loyalisten, und er ‚tolerierte’ die Gründung einer neuen Partei, die von seinem Halbbruder geleitet wurde.
Die Regierungsmacht der ersten demokratischen Partei der Malediven unter Führung des langjährigen Dissidenten Mohamad Nasheed dauerte daher nur kurz. Als er 2012 versuchte, sich eines Gayoom-treuen Richters zu entledigen, wurde er abgesetzt. In den folgenden Wahlen kam Gayooms Partei an die Macht. Nasheed wurde unter dem Anti-Terror-Gesetz angeklagt. Er versuchte, auf der Strasse gegen die Willkür der Justiz zu protestieren. Doch die über eintausend Inseln und Atolle eignen sich schlecht für Volksaufläufe, besonders dann, wenn die Gesamtbevölkerung (350'000) zweimal kleiner ist als die Zahl der ausländischen Touristen.
Lukrative Avancen der saudischen Wahabiten
Vor einem Monat wurde Nasheed verhaftet und landete in demselben Gefängnis, in dem er als Prisoner of Conscience von Amnesty International bereits über zehn Jahre verbracht hatte. Nun droht ihm der Entzug aller politischen Rechte. Westliche Regierungen protestierten, und Indiens Premierminister Narendra Modi verzichtete auf einen für anfangs März geplanten Besuch von Malé.
Doch der greise Gayoom beweist ein weiteres Mal, warum er sich so lange im Amt halten – und in demokratischer Verkleidung wieder zurückkehren – konnte. Die Regierung zeigt sich grosszügig für lukrative Avancen der saudischen Wahabiten – ein nützlicher Drohfinger für ängstliche westliche Regierungen. Und falls die islamistische Karte nicht sticht, ist da immer noch China, das von Herzen gern in den trüben politischen Wassern des Indischen Ozeans fischt, wie das Beispiel der Nachbarn Sri Lanka und Pakistan zeigt.