Journal21: Hans-Ulrich Jost, die aktuelle Lage der Schweiz und auch der Politik wird von vielen als Krise wahrgenommen. Ist das eine Krise, oder war das schon schlimmer?
Hans-Ulrich Jost: Das ist eindeutig eine Krise. Aber es gab früher ähnlich schwerwiegende Krisen, beispielsweise in den 1930er Jahren, die man gut mit der aktuellen Lage vergleichen kann.
Journal21: Inwiefern?
In den 1930er Jahren hatte der Bundesrat grosse interne Konflikte. Zwei Bundesräte mussten praktisch zurücktreten wegen diesen Zerwürfnissen. Gleichzeitig gab es auf der politischen Ebene den Ansturm der Fronten, also der rechtsradikalen Bewegungen. Und nicht zuletzt befand sich das Land in einer schwierigen Wirtschaftskrise, der gegenüber die Politik offenbar überhaupt keine klare Perspektive hatte.
Journal21: Wie hat das Parlament seinerzeit auf diese Lage reagiert?
Das Glück war, dass diese Rechte damals zwar viele Gruppen aufwies, aber zahlenmässig letztlich doch marginal war. Es gab keine Massenpartei. Und so wurde die Zusammensetzung der Parlamente ausser in ein paar grösseren Kantonen eigentlich nicht wesentlich verändert.
Journal21: Das heisst, dass das nationale Parlament sich gar nicht direkt mit diesen Gruppierungen auseinandersetzen musste. Aber das Problem war ja gleichwohl da. Wie ist man damit umgegangen?
Ganz so einfach war es nicht. Die grösste Auseinandersetzung, welche die Schweiz in eine schwere Krise hätte führen können, war die Initiative für eine Totalrevision der Bundesverfassung. Für diese Totalrevision haben nicht nur die Fronten, also die extreme Rechte, gekämpft, sondern auch die katholisch-konservative Partei. Wenn damals eine Mehrheit für diese Verfassungsrevision zustande gekommen wäre, dann hätte das die Schweiz in eine schwere Krise gestürzt.
Journal21: Was wurde mit dieser Verfassungsrevision angestrebt?
Es ging klar um einen autoritären, korporatistischen Staatsaufbau, wie er ja sogar von einzelnen Bundesräten, zum Beispiel von den Bundesräten Musy, Motta und Etter, propagiert wurde. Die Kräfteverhältnisse waren prekär. Aber diese Verfassungsinitiative wurde zurückgewiesen dank dem Zusammengehen der Sozialdemokraten mit dem Freisinn.
Journal21: Wenn man das mit der heutigen Situation vergleicht, dann ist zu sagen: Die Wirtschaftskrise haben wir schon, auch wenn sie möglicherweise erst richtig beginnt, aber die politische Krise ist älter. Die Krise in der Wirtschaft hat also die aktuelle politische Krise nicht ausgelöst. Wo sehen Sie Gründe, die zur gegenwärtigen politischen Krise geführt haben?
Ich sehe drei Punkte. Zum einen hat die Politik keine prioritäre Ziele mehr. Es geht ja nicht drum, dass ein absoluter Konsens da ist, aber wenigstens sollte es Perspektiven geben, die als prioritär anerkannt werden, zum Beispiel in der Europapolitik oder in der Wirtschafts- oder Sozialpolitik. Das gibt es nicht mehr. Es ist jedenfalls sehr schwierig, da überhaupt brauchbare Konzepte ausfindig zu machen.
Zum Zweiten ist die Konsensbereitschaft zusammengebrochen. Das ist ja bekannt und hat zum Zusammenbruch der Zauberformel geführt. Dieser Zusammenbruch begann schon 1970, aber mit der Abstimmung über Europa, über den EWR, im Jahr 1992, kam es dann zu einer richtigen Polarisierung. Man kann fast sagen: zu einer Explosion. Und seither gibt es für das Land keine einigermassen kohärente und mehrheitsfähige Perspektive mehr.
Und das Dritte ist die Vergangenheitsbewältigung und damit der Verlust von Goodwill im Ausland. Die Schweiz kann sich nicht mehr dadurch gewissermassen „moralisch aufpumpen“, indem man darauf verweist, wie gut man im Ausland angesehen wird, wie die Schweiz bewundert wird. Das hat dem Selbstverständnis des Landes und der Bevölkerung geschadet.
Journal21: Sind diese Entwicklungen durch Fehler verursacht worden, die im Land selber gemacht worden sind, oder kommt das von äusseren Einflüssen?
In der Schweiz hängt immer beides zusammen. Die Schweiz ist seit dem 18. Jahrhundert immer sehr eng mit dem Ausland verflochten, zum Teil sogar vom Ausland bestimmt. Die Schweiz kann solchen äusseren Einflüssen nicht entgehen – in Zeiten einer wirtschaftlichen Krise ganz besonders.
Das andere Problem findet sich im Innern des politischen Systems. Es geht um neue Möglichkeiten der Propaganda, mit denen Politik manipuliert, die politische Agenda bestimmt werden kann, ohne dass dahinter ein festes politisches Programm stehen würde.
Journal21: Das Hauptmerkmal der heutigen Situation – und das im Gegensatz den 30er Jahren – ist, dass es heute eine gut organisiert nationalkonservative Rechte gibt. Ist diese Rechte Ursache der Probleme oder Folge von Problemen, die bereits vorher bestanden haben?
Die nationalkonservative Rechte ist nicht neu. Die gibt es in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert. Das Neue ist, dass diese nationalkonservative Rechte – auch dank massiver Finanzierung – eine Massenpartei geworden ist. Das gab es so bisher nicht, wenn man einmal davon absieht, dass die katholisch-konservative Partei sehr konservativ war, aber natürlich nicht so nationalistisch.
Journal21: Muss man aus der Tatsache, dass diese rechte Massenpartei entstanden ist, folgern, dass die anderen Parteien mit diesem neuen politischen Phänomen nicht zurande gekommen sind und bis heute kein Mittel dagegen gefunden haben?
Das Problem der Mittelparteien ist, dass sie bei einem Zusammengehen mit dieser populistischen Rechten von dieser aufgesogen würden. Aber offenbar können sich diese Parteien dennoch nicht überwinden, mit der Linken zusammenzuarbeiten, also eine Mitte-Links-Mehrheit zu bilden. Dabei hat man gesehen, dass das möglich war, eben bei dieser Verfassungsabstimmung in den 30er Jahren. Da kam es ganz kurzfristig zu einer solchen Mitte-Links-Zusammenarbeit, und damit hat man diesen Vorstoss der extremen Rechten abblocken können.
Journal21: Aber als Grundstruktur für das politische Handeln funktioniert eine solche Zusammenarbeit heute nicht mehr?
Das Problem ist, dass heute externe Faktoren in das Parteileben hineinreichen. Die Parteien sind nicht mehr intellektuelle oder politische Zirkel, die Politik zu machen versuchen, indem sie Teile der Bevölkerung direkt ansprechen. Die Parteien sind heute zersetzt von Lobby-Gruppen, von Partikulärinteressen und vor allem von den Finanzen. Wer heute in der Politik vorwärts kommen und Einfluss gewinnen will, der braucht einen beträchtlichen finanziellen Rückhalt.
Journal21: Der scheint nur auf der einen Seite gegeben zu sein. Nun hat alt Bundesrat Pascal Couchepin vor einiger Zeit vor einer Italianisierung der schweizerischen Politik gewarnt. Teilen Sie solche Befürchtungen?
Die schweizerische Politik war immer zersplittert wegen der Sprachregionen und auch wegen der unterschiedlichen religiösen Richtungen in der Schweiz und weil es zwischen Links und Rechts immer ein ganzes Spektrum von Ideen und Gruppierungen gab. Couchepin hat aber insofern recht, als die schweizerischen Parteien in einem solchen Masse von Lobby-Organisationen unterwandert sind, dass man schon fast von einer Art Mafia sprechen könnte.
Journal21: Es gibt andere Politikmodelle, zum Beispiel dasjenige von Frankreich, wo je eine relativ gut organisierte Linke und Rechte um die Mitte kämpfen, wobei sich mehrheitlich die Rechte durchsetzen kann. Ist das ein Modell, mit dem man in der Schweiz in Zukunft zu rechnen hat?
Ich glaube nicht. Der Aufbau eines solchen bipolaren Systems ist schon wegen der regionalen Vielfalt schwierig und wenig wahrscheinlich. Wenn es in diese Richtung geht, dann eher in dem Sinne, dass die nationalkonservative Rechte, also die SVP, die Mittelparteien aufschluckt oder an sich bindet. Man sollte nicht vergessen, dass Christoph Blocher schon sehr früh das Ziel hatte, den Freisinn zu übernehmen, um so besser gegen die Linke kämpfen zu können. Aber so weit sind wir noch nicht.
Journal21: Sehen Sie in einer solchen Entwicklung eine reale Möglichkeit?
Das ist ein reales Risiko. Die SVP hat ja teilweise Wahlergebnisse erzielt, die im schweizerischen Proporzsystem einzigartig sind. Ich hatte immer schon den Gedanken, dass es ernsthaft gefährlich wird, wenn die SVP die 30-Prozent-Schwelle überschreitet. Die Massenpartei SVP könnte dann die FDP praktisch zu einer Klientelpartei ihrer Bewegung machen. Die CVP würde sich in diesem Fall vermutlich opportunistisch anzugleichen versuchen. In diesem Fall würde die Linke, die ja sowieso in der Minderheit ist, praktisch marginalisiert.
Journal21: Halten Sie eine solche Entwicklung in der Schweiz schon in den nächsten Jahren für möglich?
Es ist denkbar. Wie schnell so etwas gehen kann, weiss ich nicht. Aber man darf nicht glauben, dass wir in der Schweiz vor der Bildung einer solchen populistischen Mehrheit unter einer stark autoritären Führung weniger Personen gefeit sind.
Journal21: In letzter Zeit ist wieder einmal der Vorschlag für eine Volkswahl des Bundesrates vorgebracht worden. Ist das ein Vorschlag, der gewissermassen Tradition hat in Krisenzeiten?
Starke Minderheiten – früher waren das die Sozialdemokraten - glaubten immer, mit der Volkswahl des Bundesrates die Koalition der Mitte brechen zu können. Heute meint die SVP, sie könne mit diesem Mittel die Mehrheit aufbrechen, die die Mitte und die Linke im Bundesrat haben, wenn sie denn zusammenarbeiten. Ich glaube aber, dass eine Volkswahl des Bundesrates unser System völlig aus den Angeln heben würde. Es genügt, daran zu denken, wie in einer solchen Volkswahl die Minoritäten, also zum Beispiel die welsche Schweiz reagieren würde. Vermutlich würde das zu so grossen Rissen führen, dass das politische System nicht mehr funktionieren würde.
Journal21: Es gibt noch eine andere Erscheinung, welche die letzten Jahre prägt. Jedermann läuft mit einem Schweizerkreuz herum. Parteien werben mit der „Liebe zur Schweiz“ oder Ähnlichem. Ist dieser neue und etwas merkwürdige Patriotismus eine Erscheinung, die regelmässig in Krisen auftaucht?
Ich würde nicht von Patriotismus, sondern von Nationalismus reden, und den gibt es nicht nur in Krisenzeiten. Neu ist, dass man solche Modeströmungen praktisch organisieren kann. Mit den modernen Mitteln der Werbung, die auch für Mode oder Autos funktionieren, kann man auch diesen Nationalismus aufheizen. Dieser Nationalismus ist aber eines der bedenklichen Erbstücke der Zeit um 1900, als sich die Länder Europas unter dem Zeichen des Nationalismus gegenseitig bekämpften und mit dem Nationalismus versuchten, die eigene Bevölkerung bei der Stange zu halten.
*Journal21: Sie zeichnen aus der Sicht des Historikers ein ziemlich problematisches und auch beängstigendes Bild der Gegenwart. Haben Sie je das Bedürfnis verspürt selber in die Politik einzugreifen? Andere Vertreter der Wissenschaft tun das.**
Vor 40 Jahren hatte ich mich in der SP engagiert. Aber heute muss man, um die Chance zu haben, gewählt zu werden, zu viel Geld und Energie einsetzen. Und die Einflussmöglichkeiten im parlamentarischen System sind beschränkt. Es ist deshalb möglicherweise sinnvoller, im Alltag und in der politischen Öffentlichkeit vermehrt die humanistischen und demokratischen Werte zu verteidigen, um so seinen Teil zur politischen Entwicklung beizutragen.
Journal21: Heute kommen mehr Quereinsteiger ins Parlament und versuchen dort etwas zu erreichen. Heisst das auch, dass die klassische „Ochsentour“ ins Bundesparlament ein Auslaufmodell geworden ist?
Ja, leider. Denn diese „Ochsentour“ hatte ja den Vorteil, dass man gezwungen war, sich eine breite politische Erfahrung von der Gemeinde über den Kanton bis zum Bund zu erarbeiten. Und das war auch eine Art von Disziplinierung. Dass es heute vermehrt Quereinsteiger gibt, ist ein typisches Merkmal der Moderne, wo man Leute heraus pflücken, aufbauen und in den politischen Prozess werfen kann. Das ist ja in der Geschäftswelt nicht anders. Da arbeitet man sich nicht mehr von unten bis auf den Chefsessel hoch, sondern da werden auf höchster Ebene Superkader gesucht, die dann einige Jahre an eine Firma gebunden werden, und das hat sich ein bisschen auf die Politik übertragen.
Journal21: Beschädigt das die Politik und ihre Leistung?
Eindeutig. Politik sollte ja nicht der Ort einer raschen Karriereverwirklichung sein, sondern Politiker sollten sich über eine längere Zeit hinweg für das Gemeinwesen engagieren. Mit diesem raschen Auswechseln von politischen Stars wird die Politik eindeutig geschädigt, sogar die Politik im Inneren einer Partei, die das pflegt. Die Aktivisten an der Basis werden frustriert, und die innerparteilichen Spannungen nehmen zu.
Journal21: Ich möchte noch auf das Thema der direkten Demokratie kommen. Sehen Sie in der aktuellen Krise in der direkten Demokratie eher eine Belastung oder aber eine Sicherung, weil am Schluss die Stimmberechtigten sagen können: Nein, so haben wir das nicht gewollt!
Die direkte Demokratie ist sicher nicht schuld an dieser Krise oder Verluderung der Politik. Aber sie wurde instrumentalisiert. Man braucht die Mittel der direkten Demokratie, um sich in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu verschaffen, ohne dass der Inhalt im einzelnen Fall besonders wichtig wäre. Direkte Demokratie kann aber auch eine Art Rettung sein, wie sich in der Vergangenheit gezeigt hat. Es kam immer wieder vor, dass Widerstand oder alternative Vorstellungen einen gewissen Erfolg hatten.
Journal21: Ich möchte zum Schluss den Blick in die Zukunft werfen, den die Historiker ja nicht besonders lieben. Wird das alles noch schlimmer, oder sehen Sie Anzeichen einer Besserung des politischen Arbeitens in der Schweiz?
In den nächsten Jahren wird es keine Besserung geben, denn um die politische Kultur wieder in eine demokratisch annehmbare Form zu bringen, braucht es viel Arbeit. Man muss aber auch nicht unbedingt daran glauben, dass die Politik völlig aus dem Ruder läuft. Ich habe eher den Eindruck, Politik wird abgebaut, wird schwächer. Man könnte es so sagen: Der Freisinn, der 1979 die Parole: „Mehr Freiheit – weniger Staat“ lancierte, erntet jetzt ein bisschen die Früchte davon. Die Politik ist entwertet. Die grossen Entscheidungen und die Definition der wichtigen Zielsetzungen liegen nicht mehr oder nur sehr teilweise in der Hand der Politik, sondern bei den grossen Interessenorganisationen und in den zentralen Säulen der Schweizer Wirtschaft, das heisst insbesondere im Bankenwesen.