Jede vierte Person, die in der Schweiz lebt, hat kein Stimm- und Wahlrecht. Es gibt zu viele Hindernisse, um den roten Pass zu erhalten. Das soll sich ändern.
Man hat viel von den Vorzügen der Schweiz gesprochen am schweizerischen Nationalfeiertag: Vom friedlichen Zusammenleben der vier Kulturen mit den vier offiziellen Sprachen, dem Föderalismus, der halbdirekten Demokratie. Das Wesen der Demokratie besteht darin, dass alle volljährigen Menschen, welche Steuern bezahlen, das Wahl- und Stimmrecht besitzen sollten. Doch gut ein Viertel der Einwohner der Schweiz ist von der Mitsprache ausgeschlossen. Viele von ihnen sind hier geboren, kennen das Land, von dem sie den Pass haben, vielleicht von den Ferien und den Besuchen bei Verwandten. Zu Hause fühlen sie sich jedoch hier in der Schweiz, wo sie arbeiten und ihre Zukunft gestalten. Sie möchten auch am politischen Leben teilnehmen, denn die Entscheide von Abstimmungen und Wahlen betreffen auch sie.
Ein schwieriger Hindernislauf – aber auch Willkür
Doch weshalb stellen diese Menschen in ihrer Wohngemeinde nicht das Gesuch, um den Pass mit dem weissen Kreuz zu erhalten? Ihn zu erwerben ist kein Spaziergang, es ist wie ein Hindernislauf mit überhöhten Latten und Fallen. Manche werden sich noch an den Film «Die Schweizermacher» mit Emil Steinberger und Walo Lüönd erinnern. Er war ein grosser Erfolg, wir haben uns vergnügt und gelacht; wir konnten allerdings fast nicht glauben, wie grotesk die Überwachung der Kandidatinnen und Kandidaten war. «Das war einmal», denken wir, doch es gibt auch heute absurde Entscheide. So wie jener, der eine junge Frau im Kanton Schwyz betrifft, die ihre Steuern mit einem Monat Verspätung zahlte und deshalb den Schweizer Pass nicht erhielt. Es gibt zahllose Beispiele, da das Bürgerrecht aus willkürlichen und unverständlichen Gründen verweigert wird. Manche Gemeinden stellen abstruse Fragen, damit der Kandidat oder die Kandidatin scheitern. Viele Schweizerinnen und Schweizer, auch solche die sich besonders patriotische geben, würden vielerorts die Bedingungen für die Einbürgerung nicht erfüllen.
Das Einbürgerungsverfahren ist unbefriedigend – auch weil jeder Kanton sein eigenes Bürgerrecht anwendet. Auf der Internetseite des Bundes heisste es zudem: «Gut zu wissen: Jede Gemeinde in der Schweiz kann eigene Regeln für die Einbürgerung aufstellen, solange diese im Rahmen des kantonalen Rechts und des Bundesrechts bleiben.» Vielerorts entscheidet sogar die Gemeindeversammlung nach Anhören der Kandidatinnen und Kandidaten über die Verleihung des Bürgerrechts. Sofern eine Gemeinde grünes Licht gibt, befasst sich der Kanton mit der Angelegenheit; ist auch diese Hürde überwunden, wird das Dossier zur Prüfung an das Staatssekretariat für Migration (SEM) nach Bern geschickt. Erst wenn dessen Einwilligung vorliegt, ist die Einbürgerung abgeschlossen.
Die Kantone haben also einen beträchtlichen Spielraum, wie sie das Einbürgerungsrecht ausgestalten; das gilt ebenfalls für die rund 2140 Gemeinden. Diese Vielfalt führt dazu, dass die Anforderungen schweizweit sehr unterschiedlich sind. Stehen die ungleichen Anforderungen je nach Wohnort für den Erhalt des Bürgerrechts nicht in krassem Gegensatz zu unserer Bundesverfassung, in der es unter Artikel 8 heisst: «Alle sind gleich vor dem Gesetz».
Eine Volksinitiative will das ändern
Eine Gruppe Schweizerinnen und Schweizer, mit und ohne Migrationshintergrund, hat deshalb kürzlich die Volksinitiative «Für ein modernes Bürgerrecht (Demokratie-Initiative)» lanciert. Diese verlangt, dass ein Bundesgesetz überall gleiche Bedingungen für die Einbürgerung ausländischer Staatsangehöriger festschreibt. Das heisst, wer seit fünf Jahren rechtmässig in der Schweiz lebt, wer nicht zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, wer die innere und äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährdet und Grundkenntnisse in einer Landessprache hat, erhält den Schweizer Pass.
Endlich eine vertiefte Diskussion
Eine geringfügige Erleichterung der Einbürgerung für die dritte Generation wollte eine parlamentarische Initiative der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats erreichen. Sie wurde am vergangenen 8. März vom Ständerat klar mit 28 zu 9 Stimmen abgelehnt, praktisch ohne Diskussion. Damit ist die vorgesehene Erleichterung beerdigt. Das neue Projekt verlangt eine radikale Änderung des Einbürgerungsverfahrens. Sofern mindestens 100’000 Unterschriften bis im November 2024 gesammelt sein werden, kann eine vertiefte Diskussion über die erleichterte Teilhabe am politischen Leben von Zehntausenden hier lebender und oft auch hier geborener Menschen nicht mehr verzögert werden.
Ein Schweizer Wirtschaftsprofessor sagte in einem Gespräch am Fernsehen über die Entwicklung der Demokratie, dass die Personen, die arbeiten und Steuern zahlen, vom Wahlrecht nicht ausgeschlossen werden sollten. Die schriftliche Nachfrage, ob er aufgrund seiner Aussage fürs Wahlrecht für Ausländer sei, überraschte ihn und er entgegnete, so habe er es nicht gemeint. Ist das nicht inkonsequent?