Neun Mitarbeiter des Palästinenserhilfswerks UNRWA sollen sich, so der Befund der Untersuchungskommission der Uno, wahrscheinlich am Massaker beteiligt haben, das Hamas-Terroristen am 7. Oktober verübt haben. Also neun von insgesamt etwa 13’000 Mitarbeitern der UNRWA im Gaza-Streifen, oder, umgerechnet, 0,7 Promille.
Klar, auch das sind neun zu viel. Aber ist das Grund genug für den Uno-Botschafter Israels, die Arbeit der Kommission als «Schande» zu bezeichnen? Es war ja nicht einmal die erste Untersuchung in dieser Sache: Bereits im April war eine andere Arbeitsgruppe, damals unter der Leitung der ehemaligen französischen Aussenministerin Colonna, zu einem ähnlichen Resultat gelangt, hatte also das vom Schweizer Philippe Lazzarini geleitete Uno-Hilfswerk weitgehend entlastet. Dies umso mehr, als Lazzarini schon im Januar nicht nur die jetzt inkriminierten neun, sondern zwölf Mitarbeiter, fast reflexartig auf israelische Anschuldigungen reagierend, entlassen oder suspendiert hatte.
Keine zugänglichen Informationen
Für das offizielle Israel ist all das Augenwischerei – tausende UNRWA-Mitarbeiter steckten mit der Hamas unter einer Decke, behauptete Uno-Botschafter Gilad Erdan jetzt einmal mehr. Womit er wohl sagen wollte: Eine riesige Zahl von Angestellten des Hilfswerks hatten oder haben weiterhin Kontakte zu den Hamas-Terroristen. Aber über die Art und Weise solcher Kontakte breitet Israel eine Decke des Schweigens. Die israelischen Geheimdienste weigern sich ja beharrlich, ihre Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – weshalb? Dazu gibt es nur Spekulationen. Die naheliegendste ist, dass diese Infos nicht stichhaltig sind. Also sollte sich die Regierung von Premier Netanjahu eigentlich auch nicht wundern, dass sich ausländische Regierungen nicht von ihrer Forderung beeinflussen lassen, die Zahlungen an die UNRWA zu blockieren.
Schon nach der Publikation des erwähnten Untersuchungsberichts unter Colonna nahmen fast alle Regierungen in Europa (nicht aber die der USA, traditionell eng verbunden mit der politischen Linie Israels) ihre Millionen-Spenden an UNRWA wieder auf. Einzige Ausnahme ist die Schweiz, das Land also, das sich dem Humanitären angeblich ganz besonders verpflichtet fühlt. Im Januar, als Reaktion auf die von Israel erhobenen Anschuldigungen, fror die Schweiz die Überweisung der fälligen 20 Millionen ein. Dann einigte man sich bei der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats (APK-N), als so genannte Nothilfe doch wieder 10 Millionen frei zu geben – allerdings unter Bedingungen, die von der UNRWA nur schwer zu erfüllen sind. Anfang Juli, kurz vor der Sommerpause, berieten die Mitglieder der Kommission dann nochmals und beschlossen mit der relativ knappen Mehrheit von 14 zu 11 Stimmen, eine von Nationalrat David Zuberbühler (SVP, Appenzell-Ausserrhoden) eingebrachte Motion (die eine totale Blockade der Hilfsgelder verlangte) abzulehnen. In der Amts-Sprache lautete die Schlussfolgerung dann so: «Die APK-N möchte die humanitäre Nothilfe weder per sofort einstellen, noch für die Zukunft ausschliessen.» Mit 17 zu 8 Stimmen aber beauftragte die APK dann den Bundesrat, sich bei der internationalen Staatengemeinschaft für eine Nachfolgelösung für die UNRWA einzusetzen. Was ja konkret nur bedeuten könnte, dass unsere Botschafterin bei der Uno in New York mit einem Lobbying zugunsten der Abschaffung von UNRWA beginnen sollte …
Notwendige Arrangements
Frage: In welcher Welt leben unsere parlamentarischen Spezialisten und Spezialistinnen für Aussenpolitik? Es müsste sich doch auch bis nach Bern herumgesprochen haben, wie gewaltig die humanitäre Katastrophe im Gaza-Streifen derzeit ist und dass diese UNRWA (30’000 Mitarbeitende im ganzen Nahen Osten, davon rund 13’000, wie erwähnt, im Gaza-Streifen) nicht einfach ersetzt werden kann. Und wenn irgendwann einmal doch, dann ergäben sich in kurzer Zeit die gleichen Probleme: Keine irgendwie geartete Hilfsorganisation kann in einem Macht-Vakuum arbeiten – Minimalkontakte mit den Behörden, handle es sich nun um eine von der Hamas geführte oder eine andere Administration, sind unvermeidbar, alle müssen sich mit allen irgendwie arrangieren, und handle es sich nur um Alltagsfragen wie die Versorgung mit Elektrizität oder Wasser. Diesem «Gesetz» musste sich auch die UNRWA in ihrer bis ins Jahr 1949 zurückreichenden Geschichte fügen. Israels Regierung aber nimmt das zum Vorwand, um die ganze UNRWA unter Terrorverdacht zu stellen. Das ist umso unverständlicher, als die gleiche Regierung dem obersten Chef der UNRWA, Philippe Lazzarini, die Einreise in den Gaza-Streifen konsequent verweigert, es ihm also verunmöglicht, sich selbst vor Ort ein Bild zu verschaffen.
Kritik an Schulbüchern
Zum besseren Verständnis noch ein paar Details: Die UNRWA wurde 1949 mit dem Ziel gegründet, die in der Folge des ersten israelisch-arabischen Kriegs vertriebenen Palästinenser zu unterstützen (damals handelte es sich um etwa 850’000 Menschen). Nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 engagierte sich die UNRWA auch für Palästinenser in den damals neu von Israel besetzten Gebieten, also im Wesentlichen im Westjordanland und im Gaza-Streifen. Von der Lebensmittelhilfe und der medizinischen Versorgung verlagerte sich die Haupttätigkeit der Organisation mehr und mehr auf den Unterhalt von Schulen und die Ausbildung. Derzeit besuchen ca. 485’000 Kinder und Jugendliche UNRWA-Schulen. Da allerdings geriet die UNRWA mehr und mehr in den Fokus israelischer Kritik: Die Schulbücher würden Israel-Feindschaft und auch Antisemitismus verbreiten, lautete der Vorwurf. Dem trat die UNRWA mit dem Argument entgegen, der Inhalt der Schulbücher würde nicht von ihr selbst, sondern von der palästinensischen Autonomie-Behörde bestimmt.
Abgesehen vom Bildungssektor betreut die UNRWA etwa 300’000 Fürsorge-Empfänger und derzeit mehr als eine Million Palästinenser im Gaza-Streifen.
Schwer vorstellbar, wie dieses komplexe Gebilde durch etwas ersetzt werden könnte, das auch schweizerische Politikerinnen und Politiker in ihrer Detail-Verbissenheit zufriedenstellen würde.