Plötzlich war ein Stern geboren. Dieser 29. Januar war wie eine Revanche dafür, dass Christiane Taubira, seit sie Justizministerin ist, von vielen nicht sonderlich ernstgenommen und hin und wieder sogar herablassend behandelt wurde. Man hatte ihr zu verstehen gegeben, sie habe diesen wichtigen Ministerposten nur aus Alibi-Gründen wegen ihrer schwarzen Hautfarbe bekommen. Das gilt für die konservativen Abgeordneten und die Granden der UMP-Partei, aber auch für den einen oder anderen ihrer Kabinettskollegen - und für so manche Politiker aus den Reihen der Sozialisten. Sie alle hatten sich gründlich getäuscht.
Sternstunde im Parlament
Der 60-jährigen, im französischen Überseedepartement Guyana geborenen Christiane Taubira, war es vorbehalten, das Gesetz zur Einführung der Homo-Ehe bei seiner Lesung in der Nationalversammlung im Namen der Regierung zu verteidigen. Ihre Auftritte im Parlament während der endlosen zehntägigen Debatte, besonders aber ihre Grundsatzrede zum Auftakt, gerieten zu Sternstunden des ansonsten so vernachlässigten und gering geschätzten französischen Parlaments.
Diese Frau, die mit zehn Geschwistern von ihrer alleinstehenden Mutter in ärmlichen Verhältnissen grossgezogen worden war, hat etwas von einer Primadonna, aber auch von Till Eulenspiegel. Sie ist reichlich kokett und besitzt zudem die Gabe, sich selbst nicht immer allzu ernst zu nehmen. Sie ist ein 1,50 Meter grosses Energiebündel, das plötzlich auch noch eine Fähigkeit an den Tag legte, die man im tristen Alltag des französischen Parlaments für immer verloren glaubte: die Kunst der freien Rede, ein echtes rhetorisches Talent. Eine Dreiviertelstunde lang hat Christiane Taubira, ohne auch nur einen einzigen Blick auf irgendeinen Zettel zu werfen, an diesem Nachmittag im Auditorium Maximum der Nationalversammlung den immer kleiner werdenden, studierten Abgeordneten eine meisterliche Vorlesung über die Geschichte der Ehe quer durch die Jahrhunderte gehalten.
Sie hat diese Institution in einen historischen Rahmen gestellt, erläutert, wie jahrhundertelang die Ehe in erster Linie ein ökonomischer Pakt war, wie lange Zeit in Frankreich gewisse Bevölkerungsgruppen, etwa die Protestanten oder die Schauspieler, vom Recht der Eheschliessung ausgeschlossen waren. Oder aber, dass trotz der von der Republik eingeführten Zivilehe die Ehefrau in Frankreich erst 1965 das Recht bekam, ein eigenes Bankkonto zu eröffnen. Und sie hat den Gegnern denkbar einfache und doch sehr wirksame Fragen gestellt, wie etwa die: Was denn die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare den heterosexuellen Paaren wegnehmen würde? Oder den rumorenden konservativen Parlamentariern unter die Nase gerieben, sie sollten doch einmal in aller Ruhe daran denken, dass ihre Kinder und Enkelkinder die Vorstellung von homosexuellen Paaren wahrscheinlich schon längst als etwas Alltägliches integriert hätten und sich später sicher einmal sehr wundern würden, wenn sie in den Sitzungsprotokollen des Parlaments die herabwürdigenden Äusserungen ihrer Väter und Grossväter zu lesen bekommen sollten.
Es war eine Rede, in deren Stil die Wochenzeitung „Nouvel Observateur“ sogar eine Mischung aus Gospel und Oper erkannt haben will und die Christiane Taubira mit einem frei vorgetragenen Gedicht beschloss, in dem von der Schönheit einer aufgehenden Rose die Rede ist. Angesichts von so viel Brillanz wirkte das traditionelle Geblöke von den Oppositionsbänken an diesem Nachmittag des 29. Januars 2013 tölpelhafter und deplatzierter denn je. Eine Opposition, die nach ihren verheerenden internen Querelen um den Parteivorsitz in einer schlimmeren Situation ist, als viele angenommen hatten. Ihr umstrittener und wohl nur provisorisch gewählter Parteivorsitzender, der während dieser Parlamentsdebatte kaum in Erscheinung trat, muss für die Kommunalwahlen im kommenden Jahr jetzt doch tatsächlich per Anzeigenkampagnen nach Kandidaten suchen.
Wie Badinter und Simone Veil
Am Ende der grossen Parlamentsrede der Justizministerin durfte man jedoch den Eindruck haben, dass manche Oppositionspolitiker geradezu an sich halten mussten, um sich nicht von ihren Bänken zu erheben und Beifall zu spenden.
Schon wenige Stunden später wurde diese flammende Rede mit der von Robert Badinter von 1981 verglichen, als der Justizminister des neu gewählten Präsidenten François Mitterrand sein Plädoyer für die Abschaffung der Todesstrafe gehalten hatte - oder mit dem historischen Auftritt der Auschwitz-Überlebenden Simone Veil, die 1974 einem feindlich gesinnten, fast ausschliesslich männlichen Parlament als Gesundheitsministerin von Präsident Giscard d'Estaing für das Recht auf Abtreibung die Stirn geboten hatte.
Poesie und Lachkrampf
Christiane Taubira hat in den Tagen nach der Auftaktrede beharrlich, oft bis fünf Uhr morgens, den Angriffen der Opposition standgehalten. Sie hat aus dem Gedächtnis ganze Passagen aus den Werken des grossen Dichters der Négritude Léon Gontan-Damas zitiert – einer, der in den 30er-Jahren Respekt für das Anderssein und die Verschiedenartigkeit sowie die Gleichheit der Rechte gefordert und die französische Assimilationspolitik auf den Antillen verurteilt hatte. Taubira hat mit ihren Argumenten und ihrer Frische des Geistes die älteren Herren in den grauen Anzügen auf den Oppositionsbänken wirklich alt aussehen lassen.
Und sie hat in einer der langen Parlamentsnächte auf Grund der Müdigkeit, die sich auch bei ihre breitmachte, am Mikrofon vor dem Hohen Haus einen grandiosen Lachanfall bekommen. An einen Abgeordneten gewandt sagte sie, sie werde ihm das Ganze jetzt einmal „Schritt für Schritt“ erklären und wählte dafür den französischen Ausdruck „par petit bout“ - und kam prompt nicht mehr weiter, aus dem Lachen nicht mehr heraus, und dem ganzen, nach wie vor überwiegend männlichen Parlament war klar, dass die charmante Ministerin plötzlich an das gedacht hatte, was „petit bout“ umgangssprachlich auch bedeuten kann, nämlich Penis.
Im Lauf dieses parlamentarischen Sitzungsmarathons wäre fast untergegangen, dass - während in Frankreich seit Monaten rund um die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare gezetert wird und die Gemüter sich erregen - ein fast gleich lautendes Gesetz zur Einführung der Homo-Ehe in Grossbritannien unter einem konservativen Premierminister ohne weitere Aufregung und quasi über Nacht verabschiedet werden konnte. Doch wer den französischen Gegnern der Homo-Ehe bei dieser Gelegenheit sagte, sie sollten doch vielleicht auch einmal über die eigenen Landesgrenzen hinausschauen, wurde fast als Vaterlandsverräter und als Parteigänger des Auslands beschimpft.
Ein konservatives Land
Christiane Taubira, die gerne sagt, sie habe erst verstanden, dass sie eine Schwarze ist, als sie zum Studium nach Paris kam, hat mit ihrer Kompetenz und ihrer souveränen, engagierten Art einen - man möchte fast sagen – leuchtenden Kontrapunkt gesetzt zu einem Frankreich, das in diesen letzten Wochen - auch zur Überraschung vieler im Ausland – wieder einmal gezeigt hat, wie konservativ die Gesellschaft des Landes im Grunde doch geblieben ist bzw. wie verzagt und populistisch die Politiker der Mitte und der Rechten in gesellschaftspolitischen Fragen hierzulande agieren.
Die Massenmobilisierung gegen die Homo-Ehe, das heuchlerische Klagen, die Einführung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare würde das Ende der Familie, ja quasi der französischen Zivilisation bedeuten und sogar das Wohl der Kinder in diesem Land bedrohen, sind dafür nur ein Beispiel.
Ein anderes ist der geradezu verbohrte, altbackene Umgang mit der Drogenproblematik. Kaum ein anderes westeuropäisches Land hat eine repressivere Drogenpolitik als Frankreich. Eine Politik, die seit mittlerweile drei Jahrzehnten nichts fruchtet – der Drogenkonsum pro Kopf in Frankreich unterscheidet sich kaum vom dem in anderen europäischen Ländern.
Letzte Woche nun hat die Regierung Ayrault es durchgesetzt, dass an ganz wenigen Orten im Land und an einem einzigen in der Hauptstadt Paris versuchsweise Drogenberatungszentren eingerichtet werden, in denen die Abhängigen unter hygienisch korrekten Bedingungen auch Drogen zu sich nehmen können. Prompt brach das seit Jahrzehnten bekannte, empörte Geschrei der ewig Gestrigen wieder los. Von verantwortungslosem Handeln der Regierung war die Rede und von Anreiz zum Drogenkonsum – ein Geschrei, das bis zur tatsächlichen Eröffnung dieser wenigen Versuchszentren mit Sicherheit noch lauter werden wird.
Legalisierung von Drogen
Der frühere sozialistische Innenminister unter Premier Jospin, Daniel Vaillant, wahrlich kein naiver Gutmensch oder unverbesserlicher Linksausleger seiner Partei, sondern ein mit allen Wassern gewaschener Apparatschik, hatte im vergangenen Jahr zum wiederholten Mal versucht, die Diskussion über die Legalisierung leichter Drogen anzustossen.
Dafür hat der Abgeordnete aber von seiner sozialistischen Partei, ebenfalls zum wiederholten Male, umgehend eins auf die Mütze und mehr oder weniger Redeverbot bekommen. Dabei weiss dieser 150-Kilo-Mann wie kaum ein anderer, wovon er spricht. Denn seit über 17 Jahren ist er auch - die unsägliche Ämterhäufung in Frankreich lässt grüssen - Bürgermeister des 18. Pariser Arrondissements, mit seinen 200‘000 Einwohnern eine Stadt für sich und mit den berüchtigten Vierteln Barbès, Château Rouge, Goutte d'Or und Chapelle eine der Hochburgen der Pariser Drogenszene.
Fast zwei Jahrzehnte lang hat Vaillant aus allernächster Nähe versucht, auf den wenigen Quadratkilometern seines Arrondissements dem Drogenproblem und dessen Nebenwirkungen Herr zu werden – vergeblich. Es sei denn, man wertet es als Erfolg, dass ein Teil der Drogenszene jüngst über die Ringautobahn in die Vorstadt Saint-Ouen abgewandert ist und nun dort ihr Unwesen treibt. Daniel Vaillant aber musste die ernüchternde Erfahrung machen, dass selbst seine eigene sozialistische Partei in Frankreich nicht bereit ist, über Drogen anders als unter repressiven Gesichtspunkten zu diskutieren. Also hält Daniel Vaillant seitdem wieder seinen Mund.
Taubira und die Sklaverei
Die über Nacht in allen Medien gefeierte Christiane Taubira hätte das an seiner Stelle wohl kaum getan. Dafür ist sie einfach zu hartnäckig, zu leidenschaftlich, zu kämpferisch. Viele in Frankreich, die sie jüngst unterschätzt haben, haben ein etwas kurzes Gedächtnis. Schliesslich war diese mit Diplomen in Wirtschaftswissenschaften, Soziologie und afroamerikanischer Ethnologie ausstaffierte Politikerin vor über zehn Jahren bereits schon einmal die „Grande Dame“ in einer anderen, höchst komplizierten und heiklen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung gewesen, an deren Ende sie es als einfache Abgeordnete geschafft hatte, ein Gesetz durchzubringen, das seitdem sogar nach ihrem Namen benannt ist: „Loi Taubira“.
Jahrelang hat sie in der Zeit der Kohabitation unter Präsident Chirac und Premierminister Jospin gekämpft, um 2001 dann ein Gesetz verabschieden zu lassen, in dem Frankreich die Sklaverei und den Sklavenhandel offiziell als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennt – mit anderen Worten: zumindest in diesem Punkt sich zu seiner eigenen Geschichte bekennt. Für die Abgeordnete aus Französisch-Guyana ein ganz entscheidender Schritt, damit Frankreich mit sich selbst ins Reine kommt und die französischen Nachfahren der Sklaven und Kolonisierten sich in ihrem Land ein wenig mehr respektiert fühlen können.
Die absolute Ausnahme
Unvergesslich bleibt, wie sie zu jener Zeit in einem Interview mit Inbrunst und Überzeugung von französischen Bürgern mit Migrationshintergrund zu berichten wusste, die angesichts der fast ausschliesslich hellhäutigen Zusammensetzung des Parlaments in Paris immer öfter empört den Satz formulierten: „Ich sehe mich da drin nicht repräsentiert.“ Dabei fuhr sie sich mit den Handflächen über die Wangen und schlug sich an die dunkelhäutige Stirn. Man sah so etwas wie echtes Leiden aufblitzen an ihrem eigenen Land, das so unendlich lange braucht, die multiethnische Zusammensetzung seiner Bevölkerung schlicht und einfach als Tatsache zu akzeptieren und ihr auch in der Politik Rechnung zu tragen.
Heute, über ein Jahrzehnt später, hat die schwarze Passionaria einen Triumph davongetragen. Sie weiss, dass Millionen farbiger Franzosen deswegen stolz auf sie sind. Sie weiss aber auch, dass sie in der politischen Landschaft dieses Landes nach wie vor eine absolute Ausnahme bleibt.