Im Kern aber stellt sich hier die Frage nach der Rolle des Experten in unserer Gesellschaft, die sich immer mehr zu einer Nichtwissensgesellschaft entwickelt.
Früher, als man noch wusste, wo Gott hockt, verstand man Naturkatastrophen häufig als Schuldfrage vor Gott: Was haben wir Menschen jetzt schon wieder angestellt? Im Jahre 1755 – ausgerechnet an Allerheiligen – erschütterte ein grosses Erdbeben die Stadt Lissabon, damals ein blühendes Handelszentrum Europas. Mit verheerenden Folgen. Zehntausende von Menschen wurden getötet. Der Verdacht kursierte unter den Deutern, dass Gott Allerheiligen deshalb als Datum für das Desaster ausgewählt habe, weil ihn die Heiligen höchstselbst gebeten hätten, die Stadt für ihre Gottlosigkeit zu bestrafen. Ein damals kaum bekannter Gelehrter in Königsberg mit Namen Immanuel Kant sah in solchen Spekulationen nichts als „sträflichen Vorwitz, der sich anmasst, die Absichten der göttlichen Ratschlüsse einzusehen und nach seinen Einsichten auszulegen“. Wenn menschliches Vertrauen sich auf etwas richten soll, dann nicht auf einen göttlichen Willen, sondern auf die wissenschaftliche Vernunft, letztlich also auf ein menschliches Vermögen. Ursachenforschung, statt Schuldzuschreibung. Das war das Fanal der Aufklärung.
Der Forscher wird schuldfähig
Nun steht die Ursachenforschung spätestens seit der Tragödie von L’Aquila 2009 selber unter Verdacht. Eine Welle der Empörung lief durch die Wissenschaftergemeinde, nachdem sieben seismologische Experten für schuldig befunden wurden, die Bevölkerung des Abruzzenstädtchens vor einem bevorstehenden Erdbeben in falscher Sicherheit zu wiegen. Die Indignation galt nicht einem göttlichen Richter, der die Welt ungerecht straft, sondern einem italienischen Richter, der einen wissenschaftlichen Fehler – genauer: einen Kommunikationsfehler - ungerecht als eine Straftat inkriminiert. Bisher ahndete man falsche Schlussfolgerungen wissenschaftsintern. Schlimmstenfalls verloren Forscher Ruf und Job, aber sie wanderten deswegen nicht ins Gefängnis.
Bei aller berechtigten Kritik macht uns das Urteil freilich auf ein Problem aufmerksam, das untergründig - quasi kulturtektonisch - mit dem Erdbeben von Lissabon zusammenhängt. Nach wie vor geht uns eine Aussage wie „Das Gewitter ist schuld“ leicht über die Lippen. Noch 1984 erschien ein Buch mit dem Titel „Natural Desasters: Acts of God or Acts of Man?“ Stürme wie Katrina oder das Erdbeben von Haiti werden von amerikanischen Fernsehpredigern als „Strafe Gottes“ bezeichnet. Ein Rückfall in die Zeit vor der Aufklärung? Wenn viele von uns Heutigen in Naturkatastrophen auch nicht mehr ein metaphysisches Übelwollen sehen, scheinen wir uns doch nicht so schnell vom Schuld-und-Vergeltungs-Gedanken zu verabschieden.
Hybride Verhältnisse
Natur kann nicht schuld sein – diese Vorstellung beruht auf einer klaren Trennung: Hier menschliches Handeln und Verantwortung, dort natürliches Ereignen und Kausalität. Aber wir leben immer mehr in „hybriden“ Verhältnissen, wie sie der französische Wissenschaftsforscher Bruno Latour genannt hat. Natur wird zusehends zur menschlich über- und umgeformten Natur. Insofern sind Naturkatastrophen „hybride“ – natürlich-sozial-politische - Ereignisse, und mit derartigen Ereignissen werden wir es in Zukunft vermehrt zu tun bekommen. Deshalb erscheint die Frage nach Ursache und Schuld aktueller denn je. In der Ökologiebewegung hat sich schon seit langem die Metapher von Gaia, der geophysiologischen Ganzheit von Mensch und Erde, etabliert. Auf dieser normativen Metapher beruht der heute gar nicht so unvertraute Gedanke, dass bestimmte Handlungen schlecht sind, weil sie den Gaia-Haushalt aus dem Gleichgewicht bringen, und zwar schlecht in moralischen Sinn: „öko-böse“. Dass die Natur uns für Umwelt-„Sünden“ „strafe“, gehört in den Wortschatz dieses moralisch-rechtlich gefärbten säkularen Diskurses, ebenso wie der „ökologische Fussabdruck“ oder die Forderung nach einer „Öko-Busse“.
Die Nichtwissensgesellschaft
Der Ausbruch des Vulkans Eyjafialla, der Tsunami in Japan, das Erdbeben von L’Aquila. Im 18. Jahrhundert hätte man gesagt: Hier demonstriert uns die Natur ihre „Erhabenheit“. Heute sagen wir: Hier demonstrieren uns geophysikalische Systeme ihre „intrinsische Komplexität“. Je mehr wir über es wissen, desto unvertrauter erscheint es uns - so charakterisierte ein Neurowissenschafter kürzlich das Gehirn; so könnte man auch sehr gut Finanzmärkte oder das Internet auf den Punkt bringen. Das ist unter Fachleuten längst ein Truismus, der bei Katastrophen immer wieder beschwichtigend ins Treffen geführt wird: „It’s the complexity, stupid“. Das wirklich Dumme daran ist, dass so nicht Vertrauen, sondern Skepsis geschürt wird.
Dahinter kommt ein sozialer Prozess zum Vorschein: der Übergang von der Wissensgesellschaft zur Nichtwissensgesellschaft. Wir haben eine Entwicklungsstufe erreicht, in die Unberechenbarkeiten, Unbekannte, Risikoanfälligkeiten unvermeidlich eingebaut sind. Wir leben in technischen Umwelten und nicht in natürlichen: in Technotopen. Man denke nur an Google Earth oder an das GPS, die unseren Globus mit einer immer dichteren „Datosphäre“ überziehen. Prognose- und Vorwarnsysteme puffern uns gegen natürliche Zufälle und Unwägbarkeiten ab. Die Zufallsausschaltung hat aber ihre Dialektik: Wir wappnen uns mit so viel Technik gegen die Unbilden der Natur, dass nun die Technik selbst den Charakter der Unbilden anzunehmen beginnt. Sie wird zum „Schicksal“.
Das Objektivitätsdilemma
Was die Wissenschaft sagt, gilt unter Laien und politischen Entscheidungsträgern oft nicht nur als Diktum der Objektivität, sondern auch des Handlungszwangs (die Fakten „diktieren“ es). Im Jahre 2009 publizierte z.B. das Hadley Center des britischen Wetterdienstes eine Broschüre mit dem Titel „Science: driving our response to climate change“. Wissenschaft, wird darin gleich zu Beginn verkündet, „liefert allen, die immer noch zweifeln, eine eindeutige und unparteiische Antwort. Sie ist es letztlich, die uns in der Begegnung mit den kommenden Herausforderungen leiten wird.“ Abgesehen von der Frage, wer sich eigentlich hinter dieser „Wissenschaft“ verbirgt, wecken solche Worte hohe Erwartungen, die in umso tiefere Enttäuschung abstürzen, wenn sie nicht erfüllt werden.
Der Wissenschafter steckt heute in einem typischen Objektivitäts-Dilemma: Schreibt er z.B. einen objektiven Bericht über die Risiken eines Staudamms, wird er damit kaum grosse öffentliche Aufmerksamkeit finden; will er – als Experte mit Verantwortungsgefühl - an die Öffentlichkeit gelangen, weil er im Staudamm die Gefährdung der Bevölkerung einer ganzen Region sieht, wirft man ihm vor, nicht objektiv zu sein, politischen Einfluss nehmen zu wollen. Ein solcher dilemmatischer Charakter haftet heute auf vielen Gebieten dem wissenschaftlichen Urteil an. Der Wissenschafter macht sich in dem Masse glaubwürdig, in dem er dies klar kommuniziert. Aus enttäuschten Erwartungen kann der Ruf der Wissenschaft grossen Schaden nehmen, wie Fukushima zeigt. Wenn die Experten die Sicherheit der Anlage beteuern, glaubt man ihnen nicht mehr; wenn sie die Unsicherheit zugeben, glaubt man ihnen noch weniger („Wie soll man denen jetzt plötzlich glauben, nachdem sie vorher das Gegenteil behauptet haben?“). Also glaubt man ihnen grundsätzlich nicht.
Abschied von der „reinen“ Expertise
Das bedeutet nun allerdings nicht, dass die Wissenschaft keinen Einfluss mehr auf unsere Urteilsbildung ausüben sollte. Vielmehr hat sich der Charakter des wissenschaftlichen Urteils gewandelt. Die meisten Phänomene, mit denen wir heute zu tun haben, sind so komplex, dass wir „nichts Genaues“ über sie wissen. Das heisst, Wissen ist zugleich gesellschaftlich hochrelevant und unsicher. In vielen Fragen der Gesundheit, der Märkte, der Energieversorgung, des Klimas gibt es keine „reine“ Expertise, sieht sich der Wissenschafter daher zu einem Spagat gezwungen: Mit einem Bein steht er in seiner Disziplin, mit dem andern in der Öffentlichkeit. Er muss gewärtig sein, zweifach zur Rechenschaft gezogen zu werden, fachlich und juristisch. Ein wissenschaftlicher Fehler ist kein strafrechtliches Tabu mehr.
Wenn die Forschung das Idyll des Elfenbeinturms schon längst verabschiedet hat, so erscheint auf Laienseite das Bewusstsein um diesen prekären Charakter wissenschaftlichen Wissens umso nötiger. Ein wissenspolitisches Bewusstsein, das die Balance aushält zwischen Wissenschaftsfrömmigkeit und -skepsis. Wir haben keine andere Wahl, als uns auf die Experten zu verlassen. Aber wir mündigen Bürger sind es, die urteilen und entscheiden. Was umgekehrt den Experten in die Pflicht nimmt, den Laien auf eine Art zu informieren, die ihm die Wahl lässt, selber seine Meinung zu bilden und zu einer Entscheidung zu finden. Ob damit den Opfern von L’Aquila geholfen gewesen wäre, muss hier als traurige Frage dahingestellt bleiben.