Neïla Salah hat einen Studienplatz an der unweit des Panthéons in Paris gelegenen „Sorbonne Assas Law School“ erhalten. Was für begabte Hipster-Schnösel aus grossbürgerlichen Kreisen nichts Besonders sein mag, ist für ein wildes Mädchen algerischer Abstammung aus Créteil in der Banlieue noch längst nicht Usus. Darum ist Neïla gewillt, die Chance zu packen und Anwältin zu werden. Doch bereits der Besuch der ersten Vorlesung wird zum Spiessrutenlauf. Der populäre Professor für Rhetorik, Pierre Mazard, hat im arenahaften Hörsaal mit rund 700 Studierenden bereits zu reden begonnen, als Mademoiselle Salah hereinstolpert und verzweifelt einen Platz sucht. Was für ein Sakrileg! Prompt erschallt der Zuruf des Dozenten. Wie sie heisse, will der Meister wissen. Nach der Antwort lässt er sie den Namen Neïla Salah wiederholen. Dann wird die nervöse Brünette coram publico mit rassistisch gefärbten Sprüchen runtergeputzt, die allen reaktionären Vorurteilen gerecht werden.
Die machohafte Macht-Demonstration des Gelehrten kommt bei vielen Zuhörenden nicht gut an, es wird gemurrt, Zwischenrufe ertönen. Doch der Professor setzt ungerührt seine Vorlesungs-Show fort. Und Frau Salah sitzt da, wütend, frustriert, hilflos. Aber sie behält die Contenance. So beginnt „Le Brio“, wo nach wenigen Szenen glasklar ist, dass es in diesem Plot um überholtes Autoritätsgehabe, Klassendünkel, Generationen- und Geschlechterkampf sowie um die Migrationsdebatte geht. Festgemacht ist das Ganze an der spannungsvollen, explosiven Konfrontation zwischen einem Akademiker mit Super-Ego und einer beherzten Studentin, die als Underdog ihre Begabung auszuschöpfen trachtet, gegen alle Hindernisse.
Deal mit Widerhaken
Das Intermezzo im Hörsaal zeitigt Folgen. Professor Mazard wird ins Büro des jungen, ehrgeizigen, gerissenen Institutsleiters zitiert. Die „causa Salah“ hat nämlich per Handyvideo, klar, bereits den Weg in die Sozialen Medien gefunden und wird dort heftig diskutiert. Für das Image der penibel auf ihren Ruf bedachten Hochschule ist das natürlich äusserst suboptimal. Weil Monsieur Mazard schon öfters unangenehm aufgefallen ist, droht der Rektor jetzt sogar eine Amtsenthebung an. Doch schlau wie er ist, macht er dem Kollegen ein letztes Angebot. Weil der alljährliche prestigeträchtige, landesweite Rhetorikwettbewerb an den Bildungszentren ansteht – die „Sorbonne Assas Law School“ hat seit Jahren dabei keine gute Figur mehr gemacht –, soll Mazard quasi als öffentlich sichtbare Wiedergutmachungsgeste die von ihm gedemütigte Studentin Salah väterlich zur Teilnahme am Concours überreden und zugleich ihr Coaching übernehmen.
Mazard spürt, dass er sich eine Absage nicht mehr leisten kann. Also macht der alte Grummler aus der Not eine Tugend, weil er auch ein wenig geschmeichelt ist: Auf dem Feld der Rhetorik-Lehre ist er schliesslich die Kapazität an sich. Und die Idee, dass dank seines Einsatzes ein Signal für die Weltoffenheit des geschichtsträchtigen Lehrinstituts im 21. Jahrhundert gesetzt werden könnte, spornt ihn an. Unverzüglich nimmt er Kontakt mit Mademoiselle Salah auf, die nachvollziehbar anfangs nur eines ist: skeptisch.
Hintergründige Dramödie
Jetzt beginnt ein gepfeffertes Drama mit Komödientouch, eine „Dramödie“, wie es der Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur Yvan Attal benennt. 1965 wurde er als Sohn jüdischer Algerien-Franzosen in Tel Aviv geboren, zog dann mit der Familie ins oben erwähnte Créteil im Pariser Südosten. Begeistert von Filmen von Woody Allen, Francis Ford Coppola oder John Cassavetes studierte Attal Schauspielerei und heimste mit seinem Filmdebüt 1989 sogleich den César als Bester Nachwuchsdarsteller und den Prix Michel Simon ein; besser kann eine Karriere kaum lanciert werden. 2001 realisierte Attal dann seinen ersten Kinofilm, „Ma femme est une actrice“, und er arbeitete weiterhin auch als Darsteller mit Regisseuren wie Michael Winterbottom, Steven Spielberg, Claude Lelouch, Jacques Doillon oder Sydney Pollack. Privat ist Yvan Attal übrigens seit den frühen 1990er-Jahren der Lebensgefährte der Actrice und Chansonnière Charlotte Gainsbourg.
Im Regiefilm „Le Brio“ konzentriert sich Yvan Attal auf die knappe, präzise Wiedergabe von Alltagssituationen, die den Konflikt zwischen der schönen Klugen und dem alte Grummler und dessen Wandel abbilden. Dabei stellt der misanthropische Professor, über sich selber erstaunt, fest, dass ihn Neïlas Intelligenz, Neugierde und Beharrlichkeit nicht so kalt lassen, wie er sich das vorgestellt hatte. Weil er realisiert, dass die Gesellschaft dieser engagierten Persönlichkeit ihn motiviert. Ja sogar ein bisschen von der Einsamkeit befreit, die ihm, dem gealterten, vereinsamten Einzelgänger, eh lästig geworden ist.
Paradebesetzung
„Le Brio“ ist übrigens Attals erstes Werk als Regisseur, in dem er selbst keinen Darsteller-Part übernommen hat. Dafür präsentiert er ein Protagonisten-Duo vom Allerfeinsten. Dabei hält er sich an das bewährte Prinzip, einem Super-Star einen Shooting-Star zur Seite zu stellen. Und so steigt als miesepetriger Professor einer in den Ring, der in Frankreich seit Jahrzehnten die Schauspielkunst auf der Bühne wie auf der Leinwand adelt: Daniel Auteuil (68). Der Altmeister trifft auf eine Mitzwanzigerin, die schon als Teenager im Showbusiness Aufsehen erregte: die Sängerin Camélia Jordana, Französin mit algerischen Wurzeln. 2009 erhielt sie nach der Teilnahme an einer Casting-Show einen Vertrag beim Musik-Label Sony; bereits ihr erstes Album wurde ein Hit.
Camélia Jordana war schon in verschiedenen Kinofilmen zu sehen, für „Le Brio“ hat sie nun den César als Beste Nachwuchsdarstellerin gewonnen. Schlagzeilen machte sie zudem 2015 durch ihren Auftritt an der Gedenkfeier für die Opfer des Attentats im Bataclan-Konzert-Club sowie kurz darauf auf dem Cover des „Nouvelle Observateur“-Magazins, wo sie – dem berühmten Bild von Eugène Delacroix nachempfunden – mit entblössten Brüsten als französisches Nationalsymbol Marianne posierte.
Stilsichere Leichtigkeit
Man weiss es, die Franzosen pflegen ihr Nationalerbe. Gerne mit einigem Pomp und Pathos. Aber nicht selten auch mit einer eleganten Prise von Selbstironie. Wie in „Le Brio“, wo Yvan Attal drängende Themen zum Umgang der Kulturen, zur Gesellschaftsethik unverkrampft ins Bild setzt, ohne sie übers Mass zu persiflieren. Zuweilen leuchtet Attal, bar aller Sozialromantik und Pseudobetroffenheit, auch in den Lebensraum Neïlas hinein, in die Gegenwelt der Vorstädte fernab vom Metropolen-Bohème-Schick. Dort geht es kerniger, deftiger zu und es wird Klartext geredet. Etwa wenn Neïla zu ihrem Freund sagt: „Mit 12 hast du von einer Karriere als Fussballer geträumt, mit 14 wolltest du Rapper werden und heute bist du Taxifahrer.“ Eine Bemerkung, die der Lover mit dem Satz kontert, Neïla sei naiv, zu glauben, sie könne mit ihrem Namen nach einem Studium damit rechnen, einen Job zu bekommen. Wie es sich damit verhält, wird in „Le Brio“ in einer stimmigen Schlusspointe festgehalten.
Yvan Attal hat keinen tiefschürfenden Problemfilm inszeniert, greift aber gesellschaftspolitisch relevante Themen intelligent und auf sehr gehobenem Unterhaltungsniveau auf. Nicht zuletzt dank den vortrefflichen Dialog-Jonglagen seiner glänzend disponierten Hauptfiguren: „Le Brio“ hat eben exakt die stilsichere, ernsthafte Leichtigkeit, die einem am cinéma français seit jeher lieb ist!
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