Wieviel Jahre der Colorado für seine Wühlarbeit benötigte, ist unter Geologen umstritten: die jüngsten Teile der Schlucht sind höchstens fünf, sechs Millionen Jahre alt. Aber das Fenster, das der Fluss dabei auf die Erdgeschichte öffnete, hat erdweit kaum seinesgleichen, jedenfalls nicht über Wasser. Die Abstürze und Terrassen der Schlucht sind soviel wie eine geologische Auslegeordnung, die im Präkambrium bei 1,840 Milliarden Jahre altem Schiefer beginnt und in einer 230 Millionen Jahre jungen Kalksteinformation endet. Die Ablagerungen von Meeren, Wüsten und Überschwemmungen grosser Flüsse. mit je anderen Mineralien gefärbt, geben der Schichtenfolge ein buntscheckiges Aussehen. Die Erdgeschichte wird freilich an den Wänden des Canyons nicht zu Ende erzählt; die Abtragung durch Erosion und Verwitterung hat die jüngsten Kapitel gelöscht. Der Canyon partizipiert an fünf Klimastufen: Tiere und Pflanzen auf dem Canyonrand gehören zur kanadischen Zone, Vegetation und Fauna auf dem Grund der Schlucht sind mexikanisch; zuoberst Kiefern, zu unterst Kakteen.
Der Bau einer Talsperre nahe dem Eingang des Parks – Glen Canyon Damm– zwang dem Colorado im Grand Canyon seit 1963 ein unnatürliches Abflusssystem auf. Es ersetzte die jährlichen Frühlings-Hochwasser durch willkürliche Abflüsse nach rein industrieller-wirtschaftlicher Logik. Zudem ist der Fluss jetzt kälter als vorher. Die Lebensräume im Park, und namentlich das Ökosystem auf dem Grund der Schlucht verarmten. So litten etwa die Laichreviere für gila cypha, einen vom Aussterben bedrohten Karpfenfisch. Erstmals gab die Parkverwaltung im Jahr 1996 Gegensteuer. Der Canyon wurde mit einer Überdosis Wasser aus dem Stausee kurz durchgespült. Das Experiment mit dem künstlichen Hochwasser wirkte heilend. Daher wurde die Flutkur seither mehrmals wiederholt, zuletzt 2012. Eine vollständige Heilung durch diese Therapie ist freilich nicht zu erwarten: die Sedimente des Colorado bleiben grösstenteils im Stausee zurück, die erwünschten Sandbänke auf dem Grund der Schlucht bilden sich nicht oder nur vorübergehend. Und jährlich wiederholte therapeutische Flutungen stehen wohl für absehbare Zeit ohnedies ausser Frage. Die anhaltende katastrophale Dürre, die den amerikanischen Südwesten heimsucht, verbietet und verhindert sie. Las Vegas und Kaliforniens Bauern, beide am Tropf des Glen Canyon Speichers, werden sich kaum dazu bereit finden, das kostbare Nass mit einem durstigen Karpfen zu teilen.
Präsident Theodore Roosevelt, der den Grand Canyon 1908 zum Nationaldenkmal proklamierte, wollte dessen majestätische Einsamkeit schützen. Gleichzeitig wünschte freilich der von diesem Superlativ der Natur hingerissene Präsident, jeder Amerikaner möge wenigstens einmal im Leben zum Canyon pilgern. Mit diesem Zielkonflikt muss die Parkverwaltung leben. Jetzt will ja nicht nur Amerika, sondern gleich die halbe Welt einen Blick in den Canyon tun. Seit der Eröffnung des Nationalparks hat sich die Zahl der Besucher auf bald fünf Millionen verhundertfacht. An dem Erfolg des Parks wollen auch die Indianer teilhaben, deren Reservate an den Park grenzen. Auf dem Westrand betreiben die Hualapai den Grand Canyon Skywalk, eine kühne Freiluftbrücke, mit einer spektakulären Aussicht in den Canyon. Zusätzlich fliegen von dort Helikopter auf den Grund der Schlucht. Hart an der Parkgrenze, wo der Little Colorado in den Hauptfluss mündet, auf Navajoland, planen internationale Unternehmer mit einem Milliardenaufwand eine wasserfressende Kleinstadt, mit Hotels, Motels, Restaurants, Läden, Supermarkets und 2200 Wohneinheiten. Zudem soll von hier dank einer Luftseilbahn täglich für Tausende der Grund des Canyons „ohne Tränen“ zugänglich werden. Die Parkverwaltung kann gegen diese Kommerzialisierung ausserhalb der Parkgrenzen wenig ausrichten. Sie ist schon innerhalb des Parks von dessen Erfolg gefordert. Anstrengungen, sich vom Kuchen des Erfolgs wenigstens ein grösseres Stück abzuschneiden, scheiterten bis dato am Widerstand des privaten Konzessionärs, der seit fast einem Jahrhundert die Restaurants und Hotels des Parks betreibt. Mit Eingriffen in den Individualverkehr – Pendelbusse! – versucht die Parkverwaltung wenigstens zu verhindern, dass (in den Worten eines Parkmanagers) „das Park-Erlebnis“ zum „Parking-Erlebnis“ verkommt. Die touristische Übernutzung hebt den Lärmpegel, die solenne Stille ist für immer dahin. An den Canyonwänden widerhallt das Gedröhn der Aussenbordmotoren von Schlauchbooten und Pontonschiffen, auf denen Tausende sich eine Schussfahrt auf den Stromschnellen genehmigen. Und hunderttausend Sightseeing-Flüge jedes Jahr strapazieren zusätzlich die Ohren.
Was den Lärm angeht, muss ich mich allerdings selber an den Ohren nehmen. Ende 1972 vergrösserte die Swissair ihre Flotte um die DC-10. Die Swissair-Piloten schulten in Tucson, Arizona, auf das neue Flugzeugmuster um. Ich sollte die „St.Gallen“ im Flug fotografieren. Um die Inflight-Bilder mit dem Anblick von etwas Schnee zu helvetisieren, schlug ich vor, die DC-1O im Grand Canyon fliegend aufzunehmen; Photoshopping war ja damals noch keine Option. Zwar bleibt der Südrand der Schlucht meist schneefrei, aber auf dem dreihundert Meter höher liegenden Nordrand fallen bis zu fünf Meter Schnee. Mein Vorschlag argumentierte mit der Weite des Canyons, dieser klafft stellenweise bis zu 29 Kilometer auseinander. Der historische Flug fand am 13. Januar 1973 statt. Werkpiloten der McDonnell Douglas flogen sowohl den Grossraum-Jet wie auch mein Foto-Begleitflugzeug, einen Jet Commander. Der Flug war risikolos. Trotzem flatterten bei der Swissair auf dem Balsberg in Zürich-Kloten die Nerven – und im Canyon hielt man sich die Ohren zu. Asche auf mein Haupt! Ich gehe indes davon aus, dass seither kein Grossraum-Jet mehr die heilige Stille brach. – Jahr des Flugbilds: 1970 (Copyright Georg Gerster/Keystone)