Dass die Erde eine Scheibe sei, glaubte schon im 3. Jahrhundert vor Christus kaum mehr ein gebildeter westlicher Mensch. Seit Jahrtausenden also weit und breit kein Scheiterhaufen mehr, auf dem man Gefahr liefe, verbrannt zu werden wegen der Behauptung, die Welt sei rund. Was um alles in dieser runden Welt bewegt die heutige Masse dann aber, trotzdem so zu tun, als ob die dreidimensionale Erde flach sei - indem sie alles und jedes auf einen kleineren oder grösseren Bildschirm bannt, um es hernach zweidimensional anzuschauen?
Erfahrungen in den Uffizien
Aufgefallen ist mir das besonders, als ich kürzlich in den Uffizien, diesem grandiosen Kunstmuseum in Florenz, versuchte, die dort ausgestellten Kunstwerke samt der ihnen würdigen Umgebung ausgiebig zu geniessen. Mit Betonung auf «versuchte». Denn was ich dort auszufechten hatte, war ein aussichtsloser Kampf gegen Handys und Kameras vor, hinter, neben, über meinem Kopf – und hauptsächlich gegen deren Bediener.
Die schenkten weder den andern Besuchern noch den herrlichen Bildern mehr Beachtung, als nötig war, um die Helgen bildschirmkongruent abzulichten. Weshalb, so fragte ich mich, kommen sie überhaupt her, wenn sie die Werke gar nicht anschauen? Oder wenn, dann nur durch ein Viereck von vielleicht 6 x 11 cm. Sie nicht so lange bewundern, bis sie den Anblick derart verinnerlicht haben, dass sie ihn später, klarer als auf jedem Foto festgehalten, wieder aus ihren Erinnerungen hervorkramen können, so oft sie wollen. Das stundenlange Anstehen könnten sie sich sparen und das Eintrittsgeld dazu, um damit stattdessen eine Postkarte oder ein Fotobuch zu kaufen, die in der Regel die Sujets in weit besserer Qualität präsentieren.
Der Hauptsache den Rücken zukehren
Die gesteigerte Form dieser Fotografiermanie waren die zuhauf geschossenen Selfies, etwa vor Michelangelos David-Statue. Was für ein Anblick: Das eigene grinsende Gesicht im Vordergrund, dahinter das Monument dieses beinahe überirdisch schönen Mannes, von dem man fast nicht glauben kann, dass es eine menschliche Hand geschaffen hat. Der Kontrast könnte grösser nicht sein.
Diese Art von Selbstaufnahme bedingt natürlich, dass man dem Hintergrundsujet den Rücken zukehrt. Dass man es damit nicht in Natura sieht, spielt keine Rolle, anschauen kann man es ja nachher auf dem Foto. So stehen sie denn etwa auch allein, zu zweit, in Gruppen auf den Zürcher Brücken, Grossmünster, Wasserkirche, den See und die Alpen im Rücken, und fotografieren sich selbst was das Zeug hält, das Handy oft auf einen langen Stecken, einen Selfie-Stick montiert. Und vergessen vor lauter eigener Wichtigkeit das Dahinter und Daneben. Nicht zuletzt auch jene Passanten, deren Slalomläufe um all diese Foto-Shootings herum zur Teilnahme an den nächsten Ski-Weltmeisterschaften berechtigen würden.
„Ich war da!“
Mich erinnert das an das Markierverhalten von Hunden, die an jeder Hausecke, jedem Baum ihr Hinterbein heben, um ihren Mithunden ihre Präsenz zu verkünden. „Ich war da!“, schreien die Fotos den Betrachtern entgegen, an die sie oft wahllos über die elektronischen Kanäle verschickt werden. Bloss: Wer will das alles eigentlich sehen? Wie viele dieser Milliarden von Bildern werden je wieder angeschaut? Und von wie vielen wünschte man sich später, man hätte sie nie aufgenommen und schon gar nicht ins Internet, das nie vergisst, gestellt?
Im Kino gaukelt uns das 3- oder gar 4D-Verfahren vor, Geschichten wirklich mitzuerleben, zu riechen, zu spüren. Die erlebten Geschichten des echten Lebens hingegen reduzieren wir auf flache Bilder. Wo, so fragt man sich, bleibt da die Realität, wenn die Fiktion zur richtigen Welt wird und die richtige Welt ihre Konturen verliert, weil sie einer ihrer drei Dimensionen beraubt und nur noch rezykliert angeschaut wird?
Verschlossene Erkenntnis
Nichts gegen das eine oder andere Erinnerungsfoto, das mithilft, das gedächtnisbedingte Ablaufdatum denkwürdiger Momente zu verlängern. Der «Wäisch no?»-Faktor beim Betrachten alter Fotos ist beträchtlich, das Vergnügungspotenzial nicht selten hoch. Wer sich aber an nicht enden wollende Dia-Abende bei Onkel Hans und Tante Frieda erinnert, an denen sämtliche Sequenzen von deren letzter Bodenseereise samt Besuch der Insel Mainau zu erdulden waren, der weiss, dass weniger oft mehr wäre. Diese Erkenntnis jedoch ist den heutigen Dauerselbstfotografen offenbar gänzlich verschlossen geblieben.
Vielleicht ist es einfacher, in einer Welt zu leben, die nur aus Länge mal Breite, nur aus Oberfläche besteht. Denn in die Tiefe zu gehen, bedeutet Mühsal und Arbeit, auch an sich selbst. Bedeutet Auseinandersetzung mit Dingen, die auf keinem Foto sichtbar sind. Vielleicht sehnen wir uns ja zurück in jene vorchristlichen Zeiten, als die Welt vermeintlich eine Scheibe war.