Kaum vom 3. Plenum des 18. Zentralkomitees der KP im November verabschiedet, nehmen die chinesischen Reformen langsam Gestalt an. Parteichef Xi Jinping hat zehn Jahre Zeit, seine ehrgeizigen Ziele zu verwirklichen. Zum Wohl Chinas und der Welt.
Chinesische Kommentatoren vergleichen schon jetzt 3/18 mit 3/11. Hinter den in China beliebten Kurzformeln verbirgt sich stets Wichtiges. Am 3. Plenum des 11. Parteitages nämlich setzte im Dezember 1978 der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping die Wirtschafts-Reform in Bewegung. Dies nach dreissig Jahren Maoismus, einer grossen Hungersnot 1958-69 (45 Millionen Tote), der Katastrophe der Grossen Proletarischen Kulturrevolution 1966-76, nach einer Zeit allgemeiner, kollektivierter und egalitärer Armut. Der Rest ist Geschichte.
Weichenstellung
Chinas Wirtschaft wuchs in den letzten 34 Jahren im Schnitt mit über neun Prozentpunkten jährlich. Doch jetzt sind die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Vorteile der Dengschen Reform verpufft. Neues, Überraschendes, Kreatives war vom 3/18 gefragt. Vielleicht so etwas Mutiges, wie es vor zwanzig Jahren – ebenfalls an einem 3. Plenum – der damalige Parteichef Jiang Zemin und der nichts fürchtende Premier Zhu Rongji durchgesetzt haben, nämlich die „sozialistische Marktwirtschaft chinesischer Prägung“.
Wie in jeder Partei gibt es auch in der KP verschiedene Richtungen, Denk- und Politschulen. Allerdings gibt es in China nur eine Partei, und die unterschiedlichen Tendenzen konkurrieren „hinter dem Vorhang“ und nicht wie anderswo üblich in der veröffentlichten Meinung freier Medien. Xi hat nun am 3/18 die Weichen gestellt für das, was in Chinas Partei- und Regierungsmedien als „nachhaltiges Wachstum“ und „mehr Markt“ definiert wird.
Kleine Prinzen – die neue Elite
Parteisupremo Xis reformerische Absichten stehen ausser Zweifel. Xi ist wie vier der sechs andern Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros Sohn eines verdienten Revolutionärs, Mitglied also der neuen Elite der „kleinen Prinzen“. Xis Vater, Xi Zhongxun, war in den entscheidenden Jahren nach 1978 Parteichef der Provinz Guangdong, dort also, wo die experimentell kapitalistische Sonderwirtschaftszone Shenzhen von Deng gegründet wurde.
Kein Wunder deshalb, dass Sohn Xi, kaum im Amt, im Dezember 2012 Shenzhen einen Besuch mit grossem symbolischen Wert abgestattet hat. Der Ausweis Xi Jinpings als marktwirtschaftlich orientierter Reformer geht auf seine Zeit als Parteichef der kapitalistischen Boom-Provinzen Zhejiang, Fujian sowie Shanghai zurück.
Parteidisziplin oberstes Gebot
Nun hat aber Xi in den letzten zwölf Monaten vor allem westliche Beobachter verunsichert. Eine anachronistisch anmutende Hommage an Mao mit einer „Massenlinie-Kampagne“ sowie ultra-nationalistischen Parolen schreckte viele im Ausland auf. Aber auch der Kampf gegen Korruption – parteiamtlich das „Krebsübel“ – intensivierte Xi und zwar sowohl „gegen Tiger als auch gegen Fliegen“. Der mächtigste Tiger wahr wohl Chongjings Parteichef und Politbüromitglied Bo Xilai, der – obwohl auch Mitglied der „Prinzling“-Elite – über die Klinge springen musste und nun eine lebenslange Haft absitzt.
Eine rigidere Pressezensur und eine strenge Überwachung des Internets sind weitere Zeichen der politischen Handschrift des neuen Parteichefs. Schliesslich werden auch alle von Provinz- bis hinunter zu Lokalkadern an die Kandarre genommen. Rauschende Gelage und „Reisli“ sind Vergangenheit, „vier Gerichte und eine Suppe“ an der Tagesordnung. Schliesslich mussten Beamte, Parteikader und Journalisten Nachilfeunterricht in Marxismus, Leninismus, Mao-Dsedong-Denken und Deng-Theorie absitzen. Auch Lektionen zum Zerfall der Sowjetunion standen auf dem Programm, um chinesische Gorbatschow-Phantasien im Keime zu ersticken. Kurz, Parteidisziplin steht wieder über allem.
Ehrgeizige Ziele
Xi Jinping hat jetzt – ganz zur Überraschung vieler in Peking stationierter Korrespondenten sowie der notorischen Nein-Sager und Skeptiker in den westlichen Medien – am 3/18 den neuen Reform-Richtlinien zum Durchbruch verholfen. Das unmittelbar nach dem Plenum verbreitete Communiqué war, wie üblich, allgemein gehalten ohne präzise Fakten. In Europa und Amerika schwadronierten im Takt der stets hyperventilierenden Online-Medien Experten, Kommentatoren und Pundits aller Denominationen derweil bereits davon, dass Parteichef Xi sich gegen starke Interessen-Klüngel innerhalb der Partei nicht habe durchsetzen können. Wenige Tage später,als Einzelheiten des 3/18-Powwows bekannt wurden, rieben sich dieselben Experten die Augen: Mehr Markt, weniger Staatsinterventionen, Reform des Finanz- und Bankensystems, Kampf gegen Korruption, Umweltschutz, soziale Stabilität, kurz „nachhaltiges Wachstum“ und „ausgewogene Entwicklung“ wurden als Ziel gesetzt.
Viele westliche China-Beobachter bleiben trotzdem skeptisch. Wohl aus Prinzip, schliesslich sind in China ja keine Kapitalisten und Demokraten sondern Kommunisten am Werk. Die letzten 34 Reformjahre zeigen jedoch, dass die Plenum-Versprechen meist eingehalten worden sind. Sehr oft unter grossen Schwierigkeiten, nicht selten mit Verzug und unter politischen Verwerfungen innerhalb und ausserhalb der Partei. Immerhin dämmerte es westlichen Kommentatoren auch bei negativster Auslegung, dass Staats- und Parteichef Xi Jinping die Zügel der Macht nur ein Jahr nach Amtsantritt jetzt fester in der Hand hat, als angenommen. Bereits knapp einen Monat nach 3/18 ist klar geworden, dass den Worten auch Taten folgen. Die Ein-Kind-Familienpolitik wurde verändert, der Rechtsstaat mit der Abschaffung des Laojia-Systems (Erziehung durch Arbeit) gestärkt , die Währung Yuan Renminbi näher an denMarkt gebracht und die Zinsen liberalisiert.
Skepsis
Doch die meisten westlichen Kommentatoren von New York über London und Frankfurt bis Zürich blieben skeptisch. Sog. Asien- und Chinaspezialisten renommierter Tages- und Wochenblätter an der Zürcher Falken- und Förlibukstrasse legten unbelekt von tieferen China-Kenntnissen die westliche Demokratie-Messlatte an und fabulierten von der „Quadratur des Kreises“. Kein Wunder, das Verdikt der Neunmalklugen Besserwisser fiel, wie seit Jahrzehnten, negativ aus.
In China selbst werden die Reform-Pläne an Universitäten, in Denkfabriken, aber auch in den Medien heftig, zum Teil gar kontrovers diskutiert. Der Reformbedarf ist in der Tat riesengross. Die Nummer zwei der Partei, Premierminister Li Kejiang formuliert es im Oktober am World Economic Forum in Dalian so: „China befindet sich derzeit in einer entscheidenden Phase. Ohne strukturelle Reform und ohne grundlegende Transformation wird China nicht imstande sein, sein wirtschaftliches Wachstum zu halten“.
Noch mehr Markt
Es geht um nichts weniger, als um die Abkehr vom drei Jahrzehnte lang erfolgreichen Wachstummodell, das den Wandel von der Plan- zur Marktwirtschaft gebracht, aber auch die Kluft zwischen Stadt und Land sowie Arm und Reich erweitert hat. Ein von Infrastrukturinvestitionen und Export angetriebenes Wachstum soll jetzt abgelöst werden durch Binnennachfrage, Konsum, Produktivitätssteigerung, Innovation, durch pfleglichen Umgang mit natürlichen Ressourcen und Umweltschutz. China soll jenes Kunststück wiederholen, das die Tigerstaaten Taiwan, Südkorea, Hongkong oder Singapur vor 25 Jahren fertig gebracht haben.
Eine der wichtigsten Punkte beim 3/18 war auch Landreform, Modernisierung der Landwirtschaft und Urbanisierung. Die Bauern und vor allem die 260 Millionen ländlichen Wanderarbeiter sollen Schritt für Schritt den Städtern gleichgestellt werden. Renten und Krankenkassen, kurz das soziale Netz soll endlich enger geknüpft und so die Kluft zwischen Arm und Reich verringert werden. Der Konsum, eines der wichtigsten Ziele der Reform, würde dadurch angekurbelt. Mit andern Worten: Die Einebnung der immens grossen Wohlstandsunterschiede stehen weit oben auf der Reform-Agenda.
Privilegien bekämpfen
Das alles aber wird ein langer, mühsamer Prozess werden. Privilegien und Interessen jener stehen auf dem Spiel, die unter dem alten System gut gelebt und besser gefahren sind, zum Beispiel parteiliche Provinz- und Lokalfürsten oder Kader von Staatsbetrieben. „Tief verwurzelte Konflikte und strukturelle Probleme“ bedürfen, so Premier Li Kejiang, nun entschiedener Reformen: „Zur Modernisierung hat China noch einen langen Weg vor sich“.
Deng Xiaoping hatte einst ein altes chinesisches Sprichwort verwendet, um Methode und Tempo der Reform zu veranschaulichen: „Den Fluss überqueren und dabei die Steine an den Fusssohlen spüren“. Premier Li liess sich von der Dengschen Metapher inspirieren, um die Besonderheiten, vor allem aber die Schwierigkeiten der jetzt beschlossenen neuen Reformen zu unterstreichen: „Wir sind jetzt in der Tiefwasserzone angelangt“.
Parteichef Xi Jinping, beim Volk beliebt, drückte die kommende grosse Aufgabe – Reformübervater Deng Xiaoping immitierend – noch drastischer aus: es gehe nicht nur um mehr Reform sondern um „eine profunde Revolution“.