Am Tag, an dem die gegenwärtig laufende Grossoffensive gegen Mosul begann, dem 18. Oktober, hat Amnesty International einen ausführlichen Bericht über die Behandlung von sunnitischen Männern und Knaben veröffentlicht, die aus den durch die irakischen Regierungstruppen und Milizen „befreiten“ Gebieten geflohen waren, um den Kriegshandlungen zu entgehen. (1)
Flucht
Es handelt sich zumeist um Personen, die jahrelang unter der Besetzung durch den sogenannten „Islamischen Staat“ gelebt hatten. Die Regierungstruppen und Milizen waren gekommen, um gegen diesen „Staat“ zu kämpfen und die Städte und Ortschaften zu befreien, die er beherrscht hatte.
Die Art der Kämpfe, lang hingezogen, eingeleitet durch Artilleriebeschuss und begleitet von Bombenangriffen, Belagerungen grösserer Ortschaften und Städte, schliesslich nach Monaten der Belagerung: Sturm auf die Stadtzentren unterstützt durch Luftangriffe, machte es unvermeidlich, dass die betroffene Zivilbevölkerung, soweit sie irgend konnte, die Flucht ergriff. Dies geschah oftmals unter lebensgefährlichen Umständen, weil die IS-Kämpfer ihrerseits die Zivilbevölkerung dazu zu zwingen versuchten, in ihren belagerten Wohnstätten auszuharren.
Gefoltert und „verschwunden“
Die angreifenden und belagernden Truppen und Milizen trennten die Knaben und Männer von ihren Familien und führten sie mit der Begründung ab, es müsse untersucht werden, ob sie zum IS gehörten oder nicht. Amnesty weist nach, dass diese angeblichen Untersuchungen zu Folterungen, Erschiessungen, Verschwinden von Personen, lang andauernden Festnahmen ohne Information über die Betroffenen, Gerichtsverhandlungen und Verurteilungen – manchmal zur Todesstrafe – durch schwer korrumpierte („deeply flowed“) Gerichte führten. Haupttäter waren stets die schiitischen Milizen. Ihre Schergen erklärten den Opfern ausdrücklich, sie wollten für die Untaten des IS Rache nehmen.
Erwiesene Verbrechen
Der Amnesty-Bericht beruht auf Aussagen von 470 im vergangenen Juli und August Überlebenden der Prozeduren sowie auf Interviews mit Advokaten, Richtern, Beamten und anderen Regierungspersonen. Die ihrer Männer beraubten Familien wurden in Lager untergebracht und befinden sich grösstenteils immer noch dort, weil ihnen die Heimkehr in ihre Wohnstätten verwehrt wurde.
Als Grund wird angegeben, die dortige Lage sei nach wie vor unsicher wegen der Minen und Explosivfallen, die der IS angebracht habe. Doch in manchen Ortschaften, die schon 2015 „befreit“ worden waren und die ihren sunnitischen Bewohnern noch immer unzugänglich bleiben, ist klar, dass es in Wirklichkeit darum geht, die Ortschaften „religiös“ (genauer gesagt „religionsgemeinschaftlich“) zu reinigen, um sie in schiitische Gebiete zu verwandeln. Ähnliches gilt nach Amnesty auch von gewissen von Kurden eroberten Gebieten, in welche die Heimkehr von Arabern untersagt oder behindert wird, um sie zu „kurdifizieren“.
Die schiitischen Milizen als Haupttäter
Die schiitischen Milizen der sogenannten Volksmobilisation gelten als die Hauptschuldigen für diese Übergriffe. Dass sie dazu neigen, ist seit 2015 allgemein bekannt. In jenem Jahr kamen die ersten massiven Übergriffe vor, nachdem der IS aus Städten wie Tikrit und aus der Provinz Diyala vertrieben worden war. Den amerikanischen Beratern und Hilfstruppen im Irak ist dieses Verhalten der Schiiten-Milizen seit langem bekannt, und dies war der Grund, weshalb die Amerikaner darauf bestanden, dass die Rückeroberung der grossen Städte, wie Ramadi und Falludscha, nicht durch die Milizen, sondern durch reguläre Einheiten der irakischen Armee und Polizei durchgeführt werde.
Die Amerikaner gingen so weit, dass sie der irakischen Regierung erklärten, wenn die Milizen den Kampf in den belagerten Städten führten, würden sie die Hilfe ihrer Luftwaffe verweigern. Unter diesem Zwang fand sich die Regierung bereit, den Milizen nur die Rolle von Hilfstruppen zuzuteilen, welche die Regierungstruppen hinter der Front zu unstützen hätten, die aber nicht direkt an den Eroberungsoffensiven teilnehmen sollten.
In der Praxis ergab sich daraus, dass die Milizen die Etappe beherrschten und dort Strassenbarrieren errichteten, an denen sie die Zivilbevölkerung abfingen, die aus den Städten und umkämpften Ortschaften flohen. Sie trennten dort, wie bereits eingangs geschildert, die Männer und älteren Knaben von den Frauen und Kindern. Von vielen dieser gefangen genommenen Männer haben ihre Familien seither nichts mehr gehört.
Diskussion im Vorfeld der Eroberung
Im Falle der Offensive von Mosul trat die gleiche Problematik wieder auf. Die Milizen erklärten, sie wollten an „dem Sturm auf Mosul“ beteiligt sein. Die Regierung sprach sich auf Druck der Amerikaner dagegen aus. Offiziell sollen die Milizen den regulären Regierungstruppen und Spezialeinheiten das Vordringen in die Stadt Mosul überlassen und mehr im Hintergrund – etwa bei der Besetzung, Absicherung und Kontrolle der eroberten Gebiete mitwirken. Doch die fanatischeren unter den schiitischen Milizen fügen sich ungern derartigen Plänen.
Einer ihrer Chef , Qais al-Khazaili, hat sogar öffentlich erklärt, die Eroberung von Mosul werde die Rache für den Tod al-Husseins in Kerbela bilden. Al-Khazaili kommandiert die zweitgrösste der schiitischen Milizen, „Asaib al-Haqq“, die 2016 mit iranischer Hilfe gegründet wurde, um den IS zu bekämpfen. Der Prophetenenkel und Protomärtyrer der Schiiten, al-Hussain, verlor sein Leben im Jahr 680 in Kerbela, durch Soldaten des sunnitischen Kalifen Yezid, und sein Tod wird bis heute jedes Jahr in den zehn Trauertagen des Ashura Festes neu beklagt.
Sunnitische Milizen, willkommen?
Es gibt auch eine Minderheit von sunnitischen Milizen, die in den Kämpfen um Mosul mitwirken will. Sie wurde aufgestellt von Atheel Nujaifi, der 2014 Gouverneur von Mosul war, als der IS die Stadt überrannte und der sich damals durch Flucht rettete. Nujaifi gehört zu einer der grossen und wohlhabenden Sunnitenfamilien Mosuls. Nujaifi erklärt, seine sunnitischen Milizen sollten bei der Befreiung der Stadt mitwirken und sie würden dabei Hilfe von den Stadtbewohnern gegen den IS finden. Doch falls schiitische Milizen bis nach Mosul vorstiessen, würden die Bewohner sich lieber auf Seiten des IS halten.
„Reinigung“ nach der Eroberung?
Die Eroberung der Stadt steht noch nicht unmittelbar bevor. Doch schon gegenwärtig ist klar: Mindestens so wichtig wie die Eroberung selbst wird die Frage sein, wie diese Eroberung stattfindet. Wenn sie dazu führt, dass nach ihr in Mosul nicht mehr die Vielfalt der Religionen zu leben vermag, die es bis 2014 unter der sunnitischen Mehrheit von Mosul gab, oder wenn schiitische Eroberer versuchen sollten, sich dort festzusetzen und den Charakter der Stadt zu verändern, wie es in Bagdad unter den Amerikanern 2006 und 2007 geschah, hat man zu erwarten, dass der IS neuen Auftrieb erhält. Vielleicht nicht mehr als territoriale, jedoch mit Sicherheit als terroristische Macht, die aus dem Untergrund wirken wird.
Macht über das Hinterland
Doch nicht nur das Eindringen in die Stadt der fanatischen Schiitenmilizen muss verhindert werden. Wie die Beispiele von Ramadi und Falludscha zeigen, ist es ebenso gefährlich und verderblich, wenn diese Milizen die Etappe beherrschen. Sie werden sich auch im Umfeld von Mosul der fliehenden Zivilbevölkerung bemächtigen und deren männlichen Teil unter den Generalverdacht stellen, dem IS anzugehören oder zuzuneigen, weil sie ja unter dem IS gelebt hatten. Die Folgen drohen die gleichen zu werden, wie bei den von AI angeprangerten Untaten. Nur die Proportionen werden ganz andere sein, Mosul ist zehnmal grösser!
(1) Amnesty international: „Punishement for Da'esh's Crimes“. Displaced Iraqis Abused by Militias and Government Forces, October 2016