Kürzlich ging ich ins Postamt von Alibagh, um einige Briefe aufzugeben. Ein simpler Akt, der jedes Mal ein bisschen Überwindung kostet, denn es ist ein kleines Spiessrutenlaufen, das jeweils mit klebrigen Fingern endet. Zuerst kommt das Anstehen, um den Brief wägen zu lassen. Dann folgt die Warteschlange vor Schalter Nr. 2, wo die Marken herausgegeben werden, mit denen ich dann zu einem Tisch gehe, wo ein klebriges Leimfässchen wartet. Da kein Stäbchen drin steckt – von Pinsel nicht zu reden – tupfe ich den Finger hinein (oder rolle einen Papierröhrchen) und streiche den Leim über den Rand des Umschlags.
Es folgt Akt 3, der nächste Schalter, wo ich den Brief übergebe und warte, bis der Postbeamte den Stempel darauf geknallt hat. Ich könnte ihn auch einfach in den rot übermalten rostigen Zylinder werfen – ein bisschen altes England – aber die Volksmeinung sagt, dass die Marken dann wieder abgelöst werden und der Brief im Abfallpapier landet. Ich kann dazu nur sagen, dass schöne Postkarten eine etwas geringere Chance haben, anzukommen, als Briefe es tun.
Zum Tee zum Postbeamten
Ich halte meinen Ärger im Alibagh P.O. jeweils unter Kontrolle, weil mir die längste Warteschlange vor dem Schalter ‚Money Transfers’ erspart bleibt, wo Arbeitsmigranten ihre Zahlungsanweisungen für die Leute zuhause im Dorf tätigen. Ich erinnere mich dann manchmal an die Szenen vor dem imposanten General Post Office in Bombay. Dort sitzen reihenweise Männer auf der Kerbe des Fussgängerstreifens, auf dem Stuhl vor sich eine gewaltige Godrej-Schreibmaschine antiken Datums. Sie tippen ihren schreibunkundigen Kunden Adresse und einige Grüsse ins Formular, bevor diese drinnen unter dem Dom des GPO zur Warteschlange stossen.
Ich könnte natürlich auch aufs Postamt meines Dorfes gehen. Aber das ist ein Bauernhaus, wo ich zuerst durch die Wohnung des Postmaster in den ersten Stock steigen muss. Mister Mhatre arbeitet in einem kleinen Zimmer mit Blick auf Reisfelder und Mangobäume. Beim letzten Besuch traf ich ihn auf dem Boden sitzend, kleine Beigen von Post um sich, jede für einen der verschiedenen Weiler von Awas sortiert. Eine Transaktion mit ihm wäre gewiss freundlicher als drei Warteschlangen durchzustehen. Aber bis ich dann den Tee getrunken und die letzten Neuigkeiten vernommen habe, und bis er seiner Frau gerufen hat, doch den Ordner mit den Briefmarken heraufzubringen, und den Leim nicht zu vergessen, ist rasch eine Stunde vergangen.
Kafka lässt grüssen
Wie lange würde es wohl dauern, bis mir Mhatre Sahib einen Money Transfer oder eine Auszahlung von meinem Postkonto durchgeführt hätte? Denn die Indische Post, obwohl offiziell keine Bank, führt auch Sparkonten. Es sind nicht weniger als 320 Millionen davon, mit einem Gesamtdepot von umgerechnet 100 Mia. sFr. Nur die State Bank of India, das landesweit grösste Finanz-Institut, lagert mehr in ihren Tresoren.
Die Post ist ein schlafender Gigant. Lange bevor meine Schwiegermutter starb, wollte sie ihr Post-Sparkonto auflösen. Meine Frau ging sechsmal in Bombay aufs lokale Postamt, um es für sie zu tun. Zuerst fehlte die Ermächtigung, dann ein Arztzeugnis, dann – als sie nicht mehr unterschreiben konnte - ein Daumenabdruck, dann eine notarielle Bestätigung, dass er echt war. Und dann starb sie. Die 28'000 Rupien – 350 Franken – lagern immer noch in den Tresoren des Post Office. Denn nun müssen alle vier Kinder vorbeikommen, um persönlich die Echtheit des Sterbedokuments zu bestätigen. Franz Kafka lässt grüssen.
Trabender Elefant
Ist es da ein Wunder, wenn auch dieser staatliche Monopolbetrieb jedes Jahr höhere Schulden schreibt, trotz seines 100 Milliarden-Depots? Allerdings: Im Unterschied zu diesen vermeintlichen Trumpfkarten verfügt er über eine, die auch sticht: Die Indische Post mag langsam sein, aber sie ist zuverlässig. Mein Lieblingsbeispiel ist die Postkarte von Schweizer Freunden, die sie aus Rajasthan schrieben, nachdem sie bei uns in Delhi Station gemacht hatten. Nur: Sie erinnerten sich nicht mehr an die Adresse. Sie wussten lediglich, dass der Quartiername etwas mit Militär und Krieg zu tun hatte. So schrieben sie eben „Bernard and Rashna Imhasly, Attack Colony, New Delhi“. Die Karte kam an, obwohl das Quartier ‚C-548 Defence Colony’ hiess.
Es war – das muss man ihm lassen – Premierminister Modi, der diese Perle im bürokratischen Sumpf aufblitzen sah. Kaum war er im Amt, setzte er letzten Sommer ein Komitee ein, das diesen Schatz heben sollte. Nach drei Monaten lag der Bericht vor, und vor einigen Wochen hat die Regierung dessen Empfehlungen übernommen. Plötzlich beginnt der Elefant zu traben. Bis Ende Jahr soll unter dem Dach der Indian Post eine Postbank entstehen, welche das 100 Milliarden-Sparvermögen übernehmen soll, vom Staat zusätzlich mit dem nötigen Stamm- und Reservekapital ausgestattet.
Profit Centre
Als zweites wird eine Versicherungsgesellschaft gegründet. Auch hier kann die Post bereits auf zwanzig Millionen Versicherungspolicen für Staatsbeamte zurückgreifen, die sie – ohne eine Lizenz zu besitzen – verwaltet. Ein dritter Pfeiler wird eine E-Commerce-Firma sein, die sich privaten E-Handelsfirmen als Verteiler anbietet – ein Wachstumsmarkt, der bald Milliarden umsetzen wird. Kürzlich unterzeichnete Amazon India mit der Post eine entsprechende Absichtserklärung.
Ein viertes Profit Centre soll individuellen Produzenten erlauben, ihre Ware über ein Webportal der Öffentlichkeit anzubieten. Ein entsprechendes Pilotprojekt in Varanasi – dem Wahlbezirk von Narendra Modi – läuft bereits, in Zusammenarbeit mit der Firma Snapdeal. Mit einem Gang zum Postamt und einem Link mit der E-Commerce-Firma können Weber dort ihre berühmten Saris aus Seide und Silberfäden direkt individuellen Kunden anbieten.
Grösstes Postnetz der Welt
Und als Fünftes soll die Post einen weiteren Strategic Asset besser nutzen – ihre Präsenz in jedem vierten indischen Dorf. Indien weist mit rund 155'000 Filialen der Welt grösstes Postnetz auf, weit mehr als das zweieinhalb Mal weitläufigere China mit seinen 82'000 Postämtern. Nur die Post kommt so nahe an die mehreren hundert Millionen Armen auf dem Land heran. Bis sie es auch schnell tut, wird allerdings noch einige Zeit vergehen.
Die Teezeremonie jedenfalls wird so rasch nicht verschwinden. Wobei auch der Tee, den mir der Postmeister aus Awas serviert, einen Strategic Asset darstellt. Dahinter verbirgt sich ja nichts Anderes als das Mantra, das heute jeder Banker auf der Welt als Kürzel vor sich hin murmelt – ‚KYC’ – Know Your Customer. Nicht einmal die beste Privatbank der Welt hat eine so intime Kenntnis seiner Kunden wie der gute alte ‚Postträger’. Nur er kommt beinahe jeden Tag vorbei – fürs Diwali-Fest und –geschenk mit Frau und Kind. Und nur bei dieser Firma bekommt der Kunde bei einem gelegentlichen Besuch auf dem Postamt einen Chai serviert.