Eine kleine Aufgabe zum Einstieg: Betrachten Sie die beiden Zahlen 220 und 284. Suchen Sie ihre Teiler (1 gilt auch als Teiler) und bilden Sie deren Summe. Fällt Ihnen etwas auf? Lesen Sie erst weiter, wenn Sie die Aufgabe gelöst haben.[1]
Befreundete Zahlen
Das Zahlenpaar (220, 284) nennt man «befreundet». Weitere Paare sind etwa (1184, 1210), (2620, 2924). Der Name leitet sich von einem antiken Brauch her. Zwei Verliebte schrieben die beiden Zahlen auf zwei Hälften einer Frucht. Dann halbierten sie die Frucht und assen je eine Hälfte. Dieser Brauch «vereinte die Liebenden auf ewig». 220 und 284 halten ewig zusammen. Pythagoras war das Paar bekannt. Auf die Frage, was ein Freund sei, soll er geantwortet haben: «Einer, der ein anderes Ich ist, wie 220 und 284.»
Solche Zahlenpaare schicken Adrenalinstösse in Mathematikergehirne. René Descartes soll im Zahlenfuror während dreier Jahre ein befreundetes Paar «cogitiert» haben. Ohne Rechner, wohlgemerkt. Ich denke, also summiere ich: 9'363’584 und 9’437’056! 1750 fand der geniale Leonhard Euler in seinem Aufsatz «De numeris amicabilicus» 58 weitere Paare. Und zwar nicht mittels «brute force», sondern durch das Studium von sogenannt «perfekten» Zahlen; Zahlen also, die mit sich selbst befreundet sind, wie zum Beispiel 6, 28, 496. Prüfen Sie selber nach.
Mathematik ist eine Terra incognita der Probleme
Man kann sich selbstverständlich fragen, wozu denn solche Spielereien dienen, ausser zur Befriedigung von abseitigen oder verirrten Bedürfnissen. Aber damit tut man den Mathematikern – oft durchaus komische Vögel – Unrecht. Und vor allem verkennt man den Charakter der Mathematik. Ich nehme das Beispiel der befreundeten Zahlen zum Anlass, kurz drei Wesenszüge zu erläutern, die man nicht spontan mit der Mathematik verbindet : Unerforschtheit, Unberechenbarkeit, poetische Potenz.
Erstens vermitteln die befreundeten Paare einen Eindruck von der Terra incognita der Mathematik. Man beginnt mit harmlosen Spielereien, gerät dadurch auf Wege, die sich schnell verzweigen und schliesslich in einem unausgeloteten Labyrinth enden. Natürlich ist die Mathematik die exakteste Sprache, die wir kennen. Aber diese Exaktheit erweist sich zugleich als ein Instrument, um immer vertracktere Probleme zu entdecken. Und indem man diese Probleme löst, schafft man sich gleich weitere.
Kann man in der Mathematik alles beweisen?
Hier ein weiteres schönes Rechenbeispiel. Man wähle eine beliebige positive Zahl. Ist sie ungerade, multipliziere man sie mit 3 und addiere 1. Ist sie gerade, dividiere man sie durch 2. Nun wende man auf das Ergebnis die gleiche Prozedur an. Man endet immer bei der Zahlenfolge 4,2,1. Immer? Die Frage ist nicht entschieden. Sie nennt sich Collatz-Vermutung.
Mathematik ist landläufig bekannt als Diszipin, in der man Probleme löst, und zwar eindeutig. Aber gleichzeitig ist sie voller unentschiedener Fragen. Viele Sätze in der Mathemaik sind nicht bewiesen, sondern Vermutungen. Zum Beispiel: Jede gerade Zahl grösser als 2 lässt sich als Summe zweier Primzahlen darstellen. 4 = 2 + 2, 6 = 3 + 3, 8 = 5 + 3, 222 = 199 + 23, 1410 = 839 + 571, 21832 = 12113 + 9719, und so weiter. Die sogenannte Goldbach-Vermutung. Man hat etwa 10 hoch 17 gerade Zahlen getestet und kein Gegenbeispiel gefunden. Aber das ist kein Beweis.
Wann hält ein Computer an?
Nun verfügen die Mathematiker heute über immer potentere Computer. Könnten nicht sie durch ihre immense Rechenkapazität den Beweis liefern? So liesse sich für die Goldbach-Vermutung ein Programm schreiben, das für jede gerade Zahl prüft, ob sie die Summe zweier Primzahlen ist. Trifft das zu, nimmt sich der Computer die nächste gerade Zahl vor und prüft sie. Stösst er irgendwann einmal auf ein Gegenbeispiel, hält er an, und das Problem ist gelöst. Die Goldbach-Vermutung ist falsifiziert. Quod erat demonstrandum.
Das klingt einleuchtend, hat aber einen fundamentalen Haken. Wann hält der Computer an? Hält er überhaupt jemals an? Gibt es eine Möglichkeit, dies grundsätzlich zu entscheiden? Nein. Es gibt kein universelles Verfahren (Algorithmus), das uns erlauben würde, bei einem beliebigen Computer vorauszusagen, ob er jemals anhält. Wirklich überraschend ist, dass man dies beweisen kann. Der Beweis stammt vom Mathematikgenie Alan Turing in seinen fundamentalen Arbeiten über den Computer in den 1930er Jahren. Er stiess damit an die Grenzen der Berechenbarkeit. Und seither mühen sich die Mathematiker mit dem Problem ab, zumindest für bestimmte Typen von Computern das sogenannte Halteproblem zu lösen.
Nicht berechenbare Zahlen
Eine Zahl, so unsere Vorstellung, lässt sich berechnen. Wir kennen ganze Zahlen, Brüche, reelle Zahlen (und exotischere Arten). Wir lernen in der Schule, wie man Brüche berechnet. Es gibt einfache Brüche wie 2/5. Ein Algorithmus liefert uns das Resultat in Dezimaldarstellung: 2/5 = 0.4. Wie steht es mit 2/7? Wir wenden den Algorithmus an: 2/7 = 0.285714286 … Wir kommen zwar der Zahl immer näher, aber der Algorithmus hält nicht an! Das ist eigentlich erstaunlich, stellen wir uns doch vor, dass es für jede Zahl einen Berechnungsalgorithmus gibt, der die Zahl eindeutig bestimmt. Von der Zahl Pi sind heute über 62 Billionen Stellen bekannt. Und damit ist man noch an keinem Ende!
Wie aber Turing ebenfalls zeigte, existieren nichtberechenbare Zahlen. Es gibt für sie kein Berechnungs- und Annäherungsverfahren, also keinen Computer, der mit ihnen arbeiten könnte. Und was noch überraschender ist: Die meisten reellen Zahlen sind nicht berechenbar! Das sieht man leicht ein. Ganze Zahlen und Brüche lassen sich nummerieren, sie sind abzählbar. Nicht so die reellen Zahlen. Könnten wir sie alle berechnen, fänden wir für jede reelle Zahl einen entsprechenden Algorithmus. Alle diese Algorithmen liessen sich auflisten, also abzählen. Da aber die reellen Zahlen eine nicht abzählbare Menge darstellen, die grösser ist als die Menge der abzählbaren Berechnungsalgorithmen, gibt es viele reelle Zahlen, für die kein solcher Algorithmus existiert – unendlich viele.
Transzendenzen der Sprache
Dichtung und Mathematik schaffen Welten aus Sprache. Gottfried Benn hat dies in einem Aphorismus (auch eine Sprache sui generis) wunderschön verdichtet: «(Es) gibt nur zwei verbale Transzendenzen: die mathematischen Lehrsätze und das Wort als Kunst. Alles andere ist Geschäftssprache, Bierbestellung.»
Dichtung und Mathematik sind Poesie im ursprünglichen Wortsinn von «poiein»: machen, hervorbringen. Sie kreieren eine Sprache, in der es möglich ist, über Dinge zu sprechen, die nicht existieren, oder sagen wir vorsichtiger: die nicht in der aus unserer Erfahrung vertrauten Weise existieren. Sie «transzendieren» diese Erfahrung. In der empirischen Welt gibt es nur endliche Dinge, die Mathematik beschäftigt sich mit Unendlichkeiten, und zwar sogar mit unendlich vielen. Sie bewegt sich in hochdimensionalen Räumen, die wir uns nicht vorstellen können; sie rechnet mit Zahlen, die «imaginär» sind, sie macht Aussagen, die sich vielleicht nicht beweisen lassen. Sie ist ein wahrscheinlich nie zu Ende erforschter Kontinent aus Mysterien und Paradoxien, wie ihn Alice in Lewis Carrolls «Alice im Wunderland» erlebt hat. Carroll war übrigens Mathematiker.
Mathematik als Kunst des Vermutens
Heute – im Banne des Deep Learning – wird in einschlägigen Kreisen darüber diskutiert, ob die Computer dereinst das Niveau von «Supermathematikern» erreichen und die menschlichen Mathematiker hinter sich lassen würden. Das ist sehr unwahrscheinlich. Es zeugt von einem völlig falschen Verständnis von Mathematik, wenn man sie als Abschnurren formallogischer «maschineller» Schritte betrachtet. Mathematik ist im Gegenteil ein hoch kreativer Prozess, der sehr viel an intuitiver Einsicht, Einfallsreichtum, Umgang mit Paradoxien, «unscharfem» Denken, «Geschmack» für Zahlen und anderen Kreationen des Denkens voraussetzt. KI-Modelle werden ja auf dem Korpus von niedergeschriebenem mathematischen Textmaterial trainiert. So formuliert zum Beispiel ein ChatGPT den Disclaimer: «Als ein KI-Sprachmodell kann ich auf der Basis von Mustern und Relationen in den Trainingsdaten Text generieren, aber meine Antworten beruhen nicht auf Imagination und Kreativität.» Kreative Mathematiker wissen in der Regel mehr, als sich explizit ausdrücken oder in Programmsprachen codieren lässt. Und aus diesem Grund ist es fraglich, ob man diesen impliziten Rumpf der Mathematik jemals völlig explizit darstellen kann.
Das heisst, die Mathematik wird sich im Zeitalter der KI als das zu erkennen geben, was sie schon immer war: als eine Kunst des Vermutens, die in glücklichen Fällen zu robusten Resultaten führt.
[1] 220 hat die Teiler 1, 2, 4, 5, 10, 11, 20, 22, 44, 55, 110. Die Summe ist 284.
284 hat die Teiler 1, 2, 4, 71, 142. Die Summe ist 220.