Der Prozess wurde vor dem Volksgerichtshof in Jinan, der Hauptstadt der Provinz Shandong, abgewickelt. Bereits mit der Wahl des Verhandlungsorts beginnt die Inszenierung. Jinan nämlich liegt weitab von jenen beiden Städten, in denen Bo Xilai unter grossem Applaus – dem des allmächtigen Ständigen Ausschuss des Politbüros inbegriffen – politische Zeichen setzte.
Chongqing - die grösste Stadt der Welt
Bo machte in den 1990er Jahren die an strategischer Stelle liegende Hafenstadt Dalian zwischen der Bo-Hai-Bucht und dem Gelben Meer zur Modell- und Vorzeigestadt für ganz China. Nach einem ebenfalls erfolgreichen Zwischenspiel als Handelsminister in Peking wurde er 2007 weggelobt: Man machte ihn zum Parteichef von Chongqing, der mit 32 Millionen Einwohnern grössten Stadt der Welt. Zudem war Bo bereits Mitglied im zweithöchsten Gremium der Partei und Chinas, dem 21-köpfigen Politbüro. Doch der charismatische Aussenseiter und Einzelgänger liess sich trotz der „Beförderung“ in die Provinz nicht beirren. Extrem ehrgeizig wie er ist, machte er auch aus Chongqing ein Modell.
Mit einer knallharten Kampagne gegen Korruption und organisiertes Verbrechen machten er und seine rechte Hand, Polizeichef Wang Lijun, landesweit als nachahmenswerte Vorbilder von sich reden. Dass das Recht gebogen wurde, dass unschuldige Geschäftsleute und Beamte in die Mühlen der neuen, gnadenlosen Justizmühle gerieten, blieb verborgen. Bo Xilai, Vertreter der kleinen, aber einflussriechen Neo-Linken Chinas, bot auch dem Volk etwas. Er forcierte den sozialen Wohnungsbau, knüpfte das soziale Netz enger und setzte sich für die Bauern ein.
Die "Prinzlinge"
Ausländische Investoren wurden dank günstiger Bedingungen vom Chongqing-Modell angezogen wie die Mücken vom Licht. Höchstes Lob erhielt Bo Xilai dehalb sogar von Henry Kissinger. Chongqing war und ist noch immer das Modell einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ kombiniert mit sozialistischer Gleichheit. Das Credo von Bo und der Linken: Der Kuchen muss angesichts der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich zunächst neu und gerechter verteilt werden. Nur so könne die Macht der KP längerfristig gesichert werden.
Der Parteichef liess auch alte Gebräuche aus der Mao-Zeit neu aufleben. Rote Lieder liess er singen, ein Brauch, der sich schnell in ganz China verbreitete und weltweit Schlagzeilen machte. Bo Xilai ist unter Chongqings „Massen“ bis auf den heutigen Tag sehr beliebt und trotz der im Prozess vorgebrachten Anschuldigungen geachtet. Die meisten halten das Gerichtsverfahren für ein abgekartetes Politspiel.
Der stets in feinstem massgeschneidertem Tuch locker auftretende Volkstribun Bo Xilai gehört jener hauchdünnen chinesischen Elite an, die als „Prinzlinge“ betitelt werden. Es sind Söhne und Töchter alter Revolutionäre, die zusammen mit dem „Grossen Vorsitzenden“ Mao Dsedong einst den Langen Marsch in den 1930er Jahren durchlitten, den Bürgerkrieg in den 1940er Jahren geführt und die Volksrepublik in den 1950er Jahren mitaufgebaut haben. Die Nachkommen machen nun Karriere in Politik und Wirtschaft. Deswegen ist der Prozess gegen „Prinzling“ Bo so hochbrisant.
Auf den Schultern der Väter
Bos Vater war Bo Yibo, einer der „acht Unsterblichen“ der Volksrepublik. Mit andern Worten: Bo Xilai gehört zur Crème de la Crème des roten China. Während der „Grossen Proletarischen Kulturrevolution“ war Bos Vater lange inhaftiert. Bo Junior selbst geriet in die Kämpfe der Roten Garden, landete zunächst im Gefängnis und wurde schliesslich „hinunter aufs Land“ geschickt, um sozusagen im Schweinekoben von den bäuerlichen „Massen“ zu lernen.
Nach der Rehabilitation seiner Familie studierte Bo und machte Karriere. Ein ähnliches Schicksal erlebte ein anderer „Prinzling“, nämlich der jetzige Staats- und Parteichef Xi Jiping. Auch dessen Vater Xi Zhongxun fiel in Ungnade, und die Familie musste schwer darunter leiden. Die Väter Bo Yibo und Xi Zhongxun wurden rehabilitiert und waren bis Anfang der 1990er Jahre unter der Leitung des grossen Revolutionärs und Reformers Deng Xiaoping am Aufbau des modernen, wirtschaftlich erfolgreichen China beteiligt. Sowohl Xi Jinping als auch Bo Xilai profitierten von der herausragenden Stellung ihrer Väter und stiegen die Karriereleiter hoch. Bo Xilai hatte dabei immer ein Flair für Öffentlichkeit, während Xi sich mehr im Hintergrund hochdiente.
Wie den Kuchen verteilen?
Wie seit langem üblich, gibt es in der allmächtigen Kommunistischen Partei Chinas verschiedene Fraktionen, Meinungen und Einstellungen. Im Unterschied zu früher werden diese heute – selbstverständlich hinter verschlossenen Türen – ausdiskutiert, meist friedlich und manchmals eben auch mit einem Prozess beigelegt. Bo gehört nach Ansicht sowohl chinesischer als auch ausländischer Experten eher zur linken Fraktion, die den Kuchen zunächst gerechter verteilen will. Die progressiven Reformer hingegen, und dazu soll Xi Jinping gehören, wollen den Kuchen zunächst möglichst schnell grösser machen, um den sozialen Ausgleich mit mehr Mitteln dann gerechter zu erreichen.
Deshalb ist es kein Wunder, dass Chinas Neo-Linke den Prozess als politisches „Komplott“ verurteilt. Mit dem Titel „Tragödie“ wurde die Prozess-Berichterstattung auf der linken Web Site „Utopia“ eröffnet. Die Partei befindet sich in einem Dilemma, denn Marx und Mao dienen quasi als Partei-„Heilige“ noch immer dazu, allzu liberale, kühne und politisch inkorrekte Äusserungen inner- und ausserhalb der Partei zu unterbinden.
Vertrauen in die "Prinzlinge"
Auch wenn vor dem Prozess gegen Bo Xilai einige linke Bo- und Mao-Bewunderer in den Senkel gestellt oder gar inhaftiert wurden, ist nicht zu übersehen, dass auch Staats- und Parteichef Xi Jinping verdächtig oft in die Trickkiste marxistischer und maoistischer Worthülsen greift. „Unsere rote Nation“, sagte Xi beispielshalber neulich, „wird nie die Farbe wechseln“. Mit Bezug auf das Chongqing-Modell sagte Han Deqiang, Associate Professor in Peking, nicht ganz unzutreffend: „China bewegt sich auf dem Wege von Bo Xilai ohne Boxilai persönlich“.
Ohne seinen Sturz im März 2012 hätte es Bo Xilai wohl bis nach ganz Oben gebracht. Er strebte einen Sitz im mächtigsten Gremium Chinas, dem Ständigen Ausschuss des Politbüros, an. Als „Prinzling“ hätte er mit seiner brillianten Karriere schon fast ein Anrecht darauf gehabt. Am Parteitag im November 2012 wurde dann das Gremium gewählt. Alles blieb auch ohne Bo Xilai sozusagen in der Familie. Vier der insgesamt sieben Mitglieder sind „Prinzlinge“, also Nachkommen verdienter Revolutionäre. Schon Revolutionär Chen Yun, unter Reformer Deng Xiaoping der Wirtschaftszar, sagte anfangs der 1980er Jahre: „Das Land unter dem Himmel sollte eines Tages den Prinzlingen übergeben werden. Den Prinzlingen können wir zutrauen, dass sie nicht das Grab für die Partei schaufeln werden“. Und so geschah es.
Ist Bo Xilai tatsächlich schuldig? Ist er schuldiger als andere Parteikader? Schliesslich geht es um Korruption, Bestechung, Begünstigung und Amtsmissbrauch. Mit Gewissheit werden wir es vermutlich nie wissen. Die Einzelheiten des Prozessverlaufes hat die kluge Journal21-Leserin und der skeptische Journal21-Leser aus der Tagespresse oder über die stets „brechenden Nachrichten“ im Internet erfahren. Nur soviel: Die Medien sind von der Partei fein säuberlich orchestriert. Auf dem chinesischen Twitter-Ersatz Sina Weibo wird der Verlauf relativ en Détail wiedergegeben. Ein Schritt in die richtige Richtung, finden viele. Zeitungen, Radio und Fernsehen stützen sich, verordnet vom Propaganda-Ministerium, ausschliesslich auf die amtliche Nachrichten-Agentur Xinhua (Neues China). Sina Weibo ist als Quelle nicht erlaubt.
Unabhängige Justiz?
Für chinesische Verhältnisse ist die neue Offenheit bereits ein Fortschritt. Im Übrigen haben Chinesinnen und Chinesen mittlerweile gelernt „zwischen den Zeilen“ zu lesen. Mit andern Worten, nicht alles, was Zeitungen, Radio und Fernsehen verbreiten, wird geglaubt, geschweige denn das, was parteioffiziell verlautbart wird. Gerade darin liegt für die allmächtige Partei die grösste Herausforderung. Um zu überleben, muss die Partei glaubwürdig wirken. Das Drehbuch zum Bo-Xilai-Prozess versucht genau das: Glaubwürdigkeit herzustellen. Es ist deshalb kein Schauprozess nach dem klassischen Muster wie gegen Maos Frau Jiang Qing 1980. Diesmal nämlich will die Partei sowohl dem eigenen Volk als auch der interntationalen Gemeinschaft beweisen, dass es im Rechtsstaat China mit rechten Dingen zu- und hergeht, d.h. dass der Prozess fair und nach allen Regeln der rechtsstaatlichen Kunst abgewickelt worden ist. Doch gutes Drehbuch hin oder her, Zhang Sizhi, Anwalt beim Prozess 1980 gegen Jiang Qing, Ehefrau von Mao und Kopf der Vierer-Bande, sagt es so: „Ehrlich gesagt, unser Rechtssystem hat sich seit der Zeit der Vierer-Bande nicht weiterentwickelt. Die Probleme von heute sind dieselben wie damals: Das Rechtssystem ist nicht unabhängig von der Partei“. Kurz: Die Partei hat immer recht beziehungsweise Recht..
Bo Xilai, Sohn des „Unsterblichen“ Bo Yibo, wird schliesslich im Gefängnis landen. Der Staatsanwalt hat eine harte Strafe gefordert. Bo Xilai hingegen hat nur wenig Reue gezeigt und die Hauptzeugen – seinen bereits zu 15 Jahren Gefängnis verurteilten Polizeichef Wang Lijun und seine wegen Mords zum Tod mit zwei Jahre Bewährung verurteilte Frau Gu Kailai – als „Lügner“ und „verrückt“ abqualifiziert. Im chinesischen Kontext keine guten Voraussetzungen für eine mildere Strafe. Das Strafmass wird zeigen, ob es denn, wie ausländische Medien sich belieben auszudrücken, tatsächlich der „Prozess des Jahrzehnts“ oder der „wichtigste Prozess sein vierzig Jahre“ sein wird. Am Strafmass wird sich ablesen lassen, wie ernst es die Partei mit dem Kampf gegen die Korruption meint. Wichtiger noch: es wird sich ablesen lassen, in welche Richtung „Prinzling“ Xi Jinping als Partei- und Staatschef die Volksrepublik China in den nächsten zehn Jahren politisch, wirtschaftlich und sozial führen wird. Die verbindlichen Beschlüsse dazu wird das Partei-Plenum im Oktober treffen.