Indiens Mann des Jahres heisst Arvind Kejriwal. Sollten Leser nun verständnislos die Stirn runzeln, wäre sie in guter Gesellschaft. Auch gestandene Politiker fragten bis vor kurzem verächtlich ‚Arvind who?‘. Oder sie taten den Mann als ‚Monsunkrankheit‘ ab, saisonbedingt wie diese, und schnell wieder verschwunden.
Sie tun es nicht mehr. Der 45-jährige Ingenieur hat ein politisches Wunder vollbracht. Kejriwal schmiedete aus einem Häuflein aufrechter Bürger der Hauptstadt eine Partei, warf sich in den Wahlkampf um die Macht im Lokalparlament, und siegte – alles innert Jahresfrist. Die beiden Platzhirsche Kongress und BJP verloren Stimmen (der Kongress zudem 80% der Sitze), sodass die BJP Kejriwals ‚Partei des Gewöhnlichen Mannes‘ den Vortritt liess, obwohl sie drei Sitze mehr errang.
Partei ohne Ideologie
Die ‚Aam Admi Party‘ hat alle vermeintlich ehernen Gesetze für eine erfolgreiche Wahlstrategie über den Haufen geworfen. Muss ein erfolgreicher Kandidat ein gestandener Politiker sein? Kein einziger der siebzig AAP-Anwärter hat je eine Wahl gewonnen. Ein grosses Wahlbudget für teure Inserate und Fernsehwerbung? Die AAP mobilisierte Freiwillige, Kandidaten gingen von Tür zu Tür, sie nutzte Facebook und Twitter – und hatte am Schluss mehr Geld als sie brauchte. ‚Kastenarithmetik‘ als Auswahlkriterium für Kandidaten? Die AAP wählte den besten Freiwilligen in einem Wahlkreis aus, ungeachtet, ob dieser der lokal dominanten Kaste angehörte oder über viel Flüssiges verfügte. Die AAP hat keine Ideologie (es sei denn ‚Anti-Politik‘ sei eine) und kein natürliches Wähler-Reservoir.
Gerade deshalb hat Kejriwal ein politisches Erdbeben ausgelöst. Wie sonst lassen sich Kommentare wie jener des Ökonomen Surjit Bhalla erklären, der im ‚Indian Express schrieb: „December 28, 2013 will go down as one of the most important political days in Indian history”. Diese Qualifikation des Amtseids von Kejriwal als ‘Chief Minister’ von Delhi mag übertrieben sein. Sie ist aber auch ein Indiz, wie sehr das politische Establishment nach Worten ringt, um dem erstmaligen Fakt beizukommen, dass eine Partei aus dem Stand in die Parlamentsränge katapultiert wurde.
Korruption – das einzige Thema der AAP
Offensichtlich hatten Politiker von Rechts bis Links den Grad des Überdrusses völlig falsch eingeschätzt, den das Volk gegenüber der Korruption inzwischen empfindet. Er war fast das einzige Thema des erfolgreichen Wahlkampfs der AAP. Kejriwal hatte die erste Mine vor zwei Jahren losgetreten, als er den Hungerstreik des alten Kämpen Anna Hazare organisierte, der die Regierung zwang, die alte Gesetzesvorlage einer Antikorruptionsbehörde endlich vor das Parlament zu bringen.
Als sich Hazare und Kejriwal darauf zerstritten, weil dieser die erfolgreiche Mobilisierung in eine Partei kanalisieren wollte, gingen die Regierungspolitiker wieder zum Tagesgeschäft über. Einzig die Rhetorik wurde angepasst und enthielt fortan gebetsmühlenhaft die Kampfansage an die Korruption. Die BJP-Opposition ihrerseits war zuversichtlich, dass der zündende Populist Narendra Modi den Überdruss der Wähler auf ihre Mühlen leiten würde.
Mit der Metro zur Amtseinsetzung
Der Wahlausgang in Delhi belehrte beide eines Schlimmeren. Es war mehr als Anti-Korruptionsstimmung, die Kejriwal & Co. hochspülte. Es war ein Ekel vor der Politikerkaste und ihrem Primadonnen-Gehabe, mit den Kavalkaden von Begleitfahrzeugen, den Rotlichtern und Sirenen, und wie sie alle Verkehrsregeln souverän missachten konnten. Kejriwal fand die perfekte Kontrastfolio dazu. Er kleidet sich geradezu penibel auf Mittelklasse – offenes Hemd, Pullover mit Schottenmuster, das dämliche Gandhi-Käppi obendrauf. Er fuhr mit der Metro zur Amtseinsetzung, tweetete auf dem Weg, er werde sich etwas verspäten, wegen „loose motion“. Statt in einer getäferten Richter-Kammer legte er den Eid im Stadion ab, vor 50‘000 begeisterten Zeugen, für die er am Schluss einen Bollywood-Song hervorkrächzte.
Kejriwal sang so miserabel, dass selbst er seine sorgfältig gepflegte Zornesmiene erstmals ablegen und lachen musste. Sie hatte im Wahlkampf gut zur Anti-Establishment-Rhetorik gepasst. So eingefleischt war sie, dass sich die Partei nach dem Wahlsieg zunächst gar nicht darüber freuen konnte. Wir haben keine Parlamentsmehrheit errungen, maulte Kejriwal. Aber auch BJP und Kongress hatten keine, sodass der Sturmlauf der AAP von Null auf 29 Landtagssitze (von insgesamt siebzig) sie zur unbestrittenen Siegerin machte. Erst als der Kongress darauf verschmitzt versprach, mit seinen mageren sieben Sitzen der AAP zur Mehrheit zu verhelfen, konnte Kejriwal nicht mehr kneifen und musste in den süss-sauren Apfel beissen.
Halbierung des Strompreises
Die AAP hat kein Regierungsprogramm. Im Wahlkampf lieh sie sich beim verhassten Kongress den sozialreformerischen Persilschein, bei der BJP holte sie ein bisschen strammen Nationalismus, bei der Linken die verstaubte Staatsgläubigkeit – alles munter gemischt. Damit macht man keinen Staat, und so griff der zum Regieren verknurrte neue ‚Chief Minister‘ auf die Anliegen aus seiner NGO-Zeit zurück, als er gegen die Privatisierung der Wasserversorgung von Delhi gekämpft hatte und die hohen Strompreise der Elektrizitätsgesellschaften als Diebstahl denunziert hatte.
Kejriwals erster Regierungsbeschluss war die Halbierung des Strompreises; dann folgte der Gratisbezug von Wasser. Doch dies sind Subventionen und kommt den üblichen Wahlgeschenken siegreicher Parteien verdächtig nahe. Und wie jeder willkürliche Eingriff in den Marktmechanismus sind sie Wasser auf die Mühle der Korruption. Ökonomen wie Surjit Bhalla rechnen der Partei bereits vor, dass beide Beschlüsse wie so viele gutgemeinte Anti-Armutsprogramme eher die Reichen begünstigen werden als die eigentliche Zielgruppe.
Kurze Schonzeit
Für den Augenblick hören sich solche Kritiker noch wie Spielverderber an. Und vielleicht kann sich die vom Erfolg fast erschlagene Partei noch rechtzeitig auf die Füsse rappeln. Dafür spricht die breite Sympathiewelle, die die Wahl im städtischen Indien ausgelöst hat. Sie verfügt auch über die kritische Masse an Intelligenz. Die meisten AAP-Führer gehören der oberen Mittelklasse an, viele haben einen Universitätsabschluss, einige sind erfolgreiche Unternehmer, sie sind jung, gut vernetzt, und hoch motiviert. Aber zur Kerntruppe gehören auch die im Kampf gegen Bürokratie und Korruption gestählten – und verhärteten? – NGO-Kader, Leute wie Kejriwal, die im Dilemma zwischen Markt und Staat kommoderweise zu Letzterem greifen, weil dort die Strafe erst viel später folgt.
Doch die politische Schonzeit ist kurz. Weitere Landtagswahlen stehen an, und im Sommer folgt der Grosse Preis der allgemeinen Wahlen. Es ist gut möglich, dass die AAP ein respektables Paket von einem oder zwei Dutzend Sitzen gewinnen wird. Spätestens dann wird sie ihren Heiligenschein an der Garderobe des Parlaments abgeben müssen. Demokratische Politik heisst in einem Land mit Majorzwahlen und einem hochkomplexen Gefüge von Wählerinteressen notgedrungen Koalitionspolitik. Koalition heisst Kompromiss – und schon kommt die Korruption um die Ecke.
Im Augenblick träumt Kejriwal immer noch von einer Referendumsdemokratie, ‚Swiss made‘. Vielleicht sollte der Schweizer Botschafter den neuen ‚Chief Minister‘ bei der Gratulationscour darauf hinweisen, dass diese Form demokratischer Politik selbst in einem kleinen Land wie der Schweiz über viele Jahrzehnte hat reifen müssen. Sonst wird Kejriwal rasch bei seinem zweiten Vorbild – Kalifornien – landen. Dort, wo Referenden demokratisches Regieren lahmgelegt haben.