Er wirkte auch deshalb so undurchdringlich, weil ich mich eben erst aus dem kriechenden Blechteppich des Peddar Road-Verkehrs herausgelöst hatte. Die Nord-Süd-Transversale Bombays durchschneidet hier die teuersten Wohnquartiere der Stadt. Und mitten in dieser Massierung von Autos und Geld liegt das ‚Holy Land‘, einige Hektar fröhlicher Wildwuchs, als gäbe es keine Grundstückpreise.
Auch dieses ‚Heilige Land‘ wird von einer Religionsgemeinschaft beansprucht, wobei ‚Doongerwadi‘ im Gegensatz zu Israel nicht umstritten ist. Die Parsen Bombays unterhalten hier seit zweihundert Jahren die letzte Ruhestätte für ihre Toten, und da sie einem besonderen (manche würden sagen: besonders makabren) Begräbnisritual folgen, sind sie darauf bedacht, es vor den Blicken der Menschen zu schützen. Oben auf dem Hügel liegt die ‚Dokhma‘, der Rundbau, auf dem die Toten zu liegen kommen. Der ‚Turm des Schweigens‘ ist den Blicken der Menschen entzogen, dafür ausgesetzt den Schnäbeln der Geier, die hier das zoroastrische ‚Luftbegräbnis‘ – so die formelle Definition – zu Ende führen.
Ein Todesfall in der Familie meiner Frau gab mir die (ungewollte) Gelegenheit, hier auch über das langsame Aussterben der Parsen, Indiens erster moderner Elite, nachzudenken. Kein anderer Ort würde sich besser dafür eignen. In einer Lichtung unter der ‚Dokhma‘ liegen einige einförmige Gebäude, die seit alters her beim schwierigen Übergang vom Leben zum Tod behilflich sind. In zwei von ihnen brennt das Ewige Feuer, das den Parsen als göttliches Sakralsymbol dient, vier sind nüchterne Gebetshallen, wie Wartesäle auf verlassenen Bahnstationen, bevölkert nur von Bankreihen. Die restlichen sind die Wohnungen der Priester und der ‚Kandyas‘, der Totenträger.
Die Leichen auf der Turm-Plattform
Nicht nur die Grenze zwischen Leben und Tod ist in ‚Doongerwadi‘ fest markiert, auch jene zwischen ‚Parsis‘ und ‚Non-Parsis‘. Nur Parsen dürfen den Feuertempel betreten, und nur Parsen dürfen in der Halle Platz nehmen, in denen die letzten Gebete im Angesicht der Leiche rezitiert werden. Den Anderen ist eine Halle beim Parkplatz zugewiesen. Dort sass ich die letzten Tage, während aus der Distanz altpersisches Gebetsmurmeln herüberdrang. Von dort wanderte mein Blick auf den dichten Blätterwald, und dahinter die riesigen Wohnblöcke, die von mehreren Seiten in die Tabuzone hineinblicken. Während vielen Jahren konnte der ‚Parsi Panchayat‘, der offizielle Vertreter der Gemeinschaft, Überbauungen verhindern. Doch schliesslich wurde auch er von den explodierenden Bodenpreisen eingeholt. Zwar verpflichten sich Wohnungsbesitzer mit Blick auf Doongerwadi, keine Fotos mit den exponierten Leichen auf der Turm-Plattform zu schiessen; doch inzwischen kursieren im Internet Hunderte von Bildern mit drastischen Details.
Nicht, dass es den Parsen an Wirtschaftsmacht fehlt. Jeder vierte Wagen, der für die Trauerfeier vorfuhr, war eine deutsche Limousine. Doch die Passagiere, die sich mühsam aus den Ledersitzen erhoben, waren in der Mehrzahl alte Menschen. Und aus vielen stieg nur ein Passagier, weil der Ehepartner tot, oder die Person nicht verheiratet war. Die Parsen sind nicht nur die biologisch älteste Volksgruppe Indiens. Sie produzieren, mit einem rekordverdächtig hohen Anteil von Junggesellen und Jungfern, auch nicht mehr genug Nachwuchs. Die rund 45‘000 ‚Parsis‘, die in Bombay leben, stellen die Hälfte der gesamten ethnischen Gemeinschaft.
Kremation durch Sonnenkollektoren
Wie bei jeder überlebensbedrohten Organisation sind die Rettungsrezepte auch bei den Parsen heftig umstritten. Die Konservativen fordern den Schulterschluss, die Reformer plädieren für Offene Arme. Je schneller die Zahlen sinken, desto mehr verhärten sich die Fronten. Mischehen? Kommt nicht in Frage! Das Initiationsritual für Kinder? Nur wenn zumindest der Vater Parse ist! Priester, die beides dennoch durchführen, werden ‚exkommuniziert‘. Konversionen? Nie und nimmer, denn die Religionsgemeinschaft hat sich, aus vermeintlichem Selbstschutz, zur ethnischen ‚Blutsgemeinschaft‘ gehärtet (allerdings nicht die Zoroastrier in Iran, wo Bekehrungen und Mischehen die Gemeinschaft jung erhalten).
Auch der kleine Paradiesgarten von Doongerwadi bleibt nicht verschont. Die Geier sind praktisch ausgestorben, und statt dass die sauber gepickten Gebeine, mit Kalk zersetzt, durch einen Kanal ins Meer geschwemmt werden, verfaulen sie auf der Plattform. Noch immer sträubt sich der Panchayat gegen die elektrische Kremation, selbst wenn diese keine Flammen mehr erzeugt und das heilige Feuer nicht beschmutzt. Die einzige Konzession an die Moderne: Sonnenreflektoren stehen nun auf der Plattform, mit Prismen, die die Leichen verkohlen; wenn nötig, wird mit Chemikalien nachgeholfen.
Eingebüsste wirtschaftliche Vorrangstellung
Doch auch die Reformer scheinen des Kampfs müde. Die meisten ziehen sich völlig in die Säkularisation zurück, wozu die Religion mit ihrem einzigen Gebot („Gute Worte, gute Taten, gute Gedanken“) sie auch einlädt. Ihre Ohnmacht ist aber auch ein Symptom für die fehlende wirtschaftliche Dynamik, die den Parsen lange den ersten gesellschaftlichen Eliterang gesichert hatte. Die zahlreichen Parsi-Statuen, -Institutionen und Strassennamen Bombays zeugen davon. Sie gehörten zu den Ersten, die sich westlicher Modernität verschrieben. Doch nach der Unabhängigkeit und mit dem Wachsen einer typisch indischen Modernität büssten sie ihre wirtschaftliche Vorrangstellung, wenn auch nicht ihre soziales Prestige, allmählich ein.
Natürlich gibt es noch grosse Unternehmen, die Parsi-Namen tragen. Aber die Tata und Godrej dienen heute mehr als Zeugen einer grossen Vergangenheit, und nicht für neuen Unternehmergeist. Kaum eine der vielen Firmen, die in den letzten zwanzig Reformjahren Indiens grossgeworden sind, wurde von Parsen gegründet. Es war ein Muslim, der ‚Tata Consultancy Services‘ zum grössten Software-Unternehmen Asiens gemacht hat. Faqir Chand Kohli profitierte bestenfalls von der hohen Unternehmenskultur der Tatas. Junge Parsis ziehen sich lieber in Berufe wie Jurisprudenz, Treuhandwesen und Medizin zurück. Dort sind sie weiterhin hochangesehen; der Oberste Richter des Landes etwa ist ein Parsi. Aber es sind Berufe, die das Erreichte – Gesundheit, Besitz, Geld, Recht – konservieren, und nicht solche, die Neues schaffen.
Vor Jahren gab ein Journalist seiner Story über die Parsen den umgedrehten Film-Titel ‚Four Funerals and a Wedding‘. Das Bonmot kreiste in meinem Kopf, als ich dem Hund zuschaute, den ein Kandya an der Kette herbeiführte, damit er an der Leiche schnuppere und damit das endgültige Todesurteil fällte. Dann folgte mein Blick den grauen Häuptern der Trauergäste, die in grosser Stille die schwankende Bahre den Weg hinauf zum Turm des Schweigens begleiteten. Es war fast, als trügen sie auch sich – und ihre Gemeinschaft – zu Grabe, in ein Holy Land, in dem es bestimmt ‚No Spitting‘ und ‚No Litter‘ gibt.