Flucht, aus welchem Grund auch immer, treibt auch heute noch Tausende quer über den Erdball. Diese Tragödie der Heimatlosen hat immer schon Kunstschaffende herausgefordert. Im Europa unter dem Zeichen des heraufziehenden Unheils durch den Nationalsozialismus konnten sich viele Menschen, darunter auch viele Künstler, jedoch nicht mehr rechtzeitig durch Flucht retten. Viel zuviel von ihren Werken wurde unwiederbringlich zerstört. Wo jedoch noch etwas gerettet werden konnte, versanken diese Artefakte meist in den Weiten der Archive.
Aus dem Schlummer der Archive
Die Auferstehung aus dem Schlummer dieser Archive ist oft ein Glücksfall. In Basel konnte ein solcher in die weltweit einzigartige Musik-Forschungsstätte Paul Sacher Stiftung einziehen. Es handelt sich im vorliegenden Falle um das gesamte hinterlassene Werk aus dem Ghettolager Theresienstadt des Komponisten Viktor Ullmann (geboren 1898 im damaligen Österreich-Ungarn). Die Manuskripte und Autographen wurden 1944, nach dem Tode des Komponisten Ullmann und des Librettisten Kien in Auschwitz, heimlich nach draussen und nach vielen Irrwegen schliesslich in die Hände der Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum in Dornach geschafft. Diese hat es als Dauer-Depositum der Paul Sacher Stiftung anvertraut. So kann heute in Basel das gesamte Theresienstädter Werk Ullmanns von Fachleuten aus aller Welt studiert werden.
Das Typoskript des Librettos
Dort liegen u. a. auch die 14 Seiten des Typoskripts des Autors und auch bildnerischen Künstlers Peter Kien (geboren 1919 in Varnsdorf/Tschechien), des ebenfalls im Ghettolager Theresienstadt gefangenen Librettisten, der letzten Oper Ullmanns: „Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung“. Dieses Typoskript ist ein besonders erschütterndes Beispiel der Umstände seiner Entstehung.
Es wurde wegen des Papiermangels im Lager auf die Rückseiten von 14 makulierten Eingangsblättern der jüdischen Selbstverwaltung von Theresienstadt getippt. Doch durfte solches Papier nur dann benutzt werden, wenn die auf der Vorderseite aufgeführten „Eingänge“ (in diesem besondern Falle ein Personentransport, der am 4. Oktober 1942 aus Berlin angekommen war) bereits wieder zur Endvernichtung in den sogenannten Ostentransporten für immer verschwunden und die Papierblätter dadurch zur Makulatur geworden waren. Dieser Transport ging 1944 genau fünf Monate vor jenem ab, mit dem Victor Ullmann und Peter Kien selbst in die Gaskammern von Auschwitz-Birkenau verschickt worden sind. Ullmann ging am 18. Oktober 1944 in die Gaskammer, Kien starb kurz darauf an einer Infektion.
Die Tod-Verweigerung
Dabei war Kiens Erfindung von der Parabel eines Todes, der eines sinnlosen Krieges aller gegen alle derart überdrüssig ist, dass er sich weigert, dem Feldzug des Kaisers von Atlantis voranzuschreiten und zu töten, so einleuchtend wie grausam. Denn: „Ich bin der Tod, der Gärtner Tod, und säe Schlaf in Schmerzgepflügten Spuren. Bin der Tod, der von der Pest befreit, und nicht die Pest.“ Nach den ausbrechenden Unruhen wegen der tausende von Verwundeten, von in Schmerzen den Tod Ersehnenden dreht der Kaiser einen raffinierten „Fake“ mit der Behauptung, er selbst habe dem Tod den Streik abgerungen und damit allen Soldaten quasi ewiges Leben garantiert. Doch die immer weiter sich ausbreitenden Unruhen zwingen den Kaiser schliesslich, vor dem Tode zu Kreuze zu kriechen und auf dessen Verlangen hin sogar als Erster zu sterben.
Die Oper im Ghettolager
Ullmann schuf in seinem rund zweijährigen Aufenthalt in Hitlers Vorzeigelager Theresienstadt zwei Dutzend Werke, hauptsächlich für Kammermusik, und betonte, „... dass wir keineswegs bloss klagend an Babylons Flüssen sassen und dass unser Kulturwille unserem Lebenswillen adäquat war“. Wie wir aus vielen Zeugnissen wissen, lebten in Theresienstadt auch viele Instrumentalisten, die, so gut es ging, der drohenden Vernichtung durch die Organisation von Konzerten und Lesungen trotzten. Viktor Ullmann musste sich daher auch bei einer Opernkomposition an die vorhandenen Instrumente halten. Zustande kam „eine Art Oper“ (Zitat Ullmann) für etwas mehr als ein Dutzend Instrumentalisten und fünf Gesangssolisten.
Doch obwohl die vollendete Oper nachweislich auch geprobt worden war, kam es leider nicht zur Uraufführung – der Abtransport nach Auschwitz setzte kurz vorher ein jähes und grausames Ende. Die Uraufführung des nur einstündigen Einakters fand erst 1975 in der „De Nederlandse Opera“ in Amsterdam statt. Seitdem wird sie, zwar nicht häufig, aber doch international immer wieder aufgeführt.
Junge Interpreten in einem zeitlosen Spiel
Die Basler Einrichtung und Inszenierung lag in den Händen der jungen österreichischen Regisseurin Katrin Hammerl, welche, wie auch schon früher bewiesen, eine eher stille, behutsame, aber gerade deshalb spannungsgeladene Regiesprache führt. „Für mich ist das Werk zeitlos und überzeitlich.“ Das wird auch durch die Schlichtheit der Spielfläche im Foyer des Grossen Basler Hauses betont sowie durch die Wahl der zeitlos harlekinesken Kostüme (Bühne und Kostüme: Lisa Dässler).
Harlekin bildet eine eher volkstümliche Schlüsselfigur im Spiel, eine Art ernsthafterer Papageno oder auch dem Harlekin in „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauss ähnlich: der weise Narr, immer wieder. Das gesamte Werk spielt sowohl inhaltlich als auch, und mehr noch, musikalisch auf viel Bekanntes an, und ist gespickt mit musikalischen Zitaten. Am hervorstechendsten das in Moll gesetzte Deutschlandlied, oder auch im grossen Schlusschoral, der Bach-Choral „Ein' feste Burg ist unser Gott“. Aber auch witzige Anspielungen auf zeitgenössische Unterhaltungsmusik brechen auf.
Insgesamt erstaunt, bei allem Ernst der Entstehungssituation, der fast durchwegs leichtfüssige, geistreiche Unterhaltungston der Oper, der dem hochliterarischen Text von Peter Kien zu danken ist. Witz stellt sich hier Vernichtung und Aussichtslosigkeit entgegen. Dem wurden die jungen Interpretinnen und Interpreten in Basel durchwegs gerecht. Handelt es sich in dieser Basler Inszenierung doch um eine Aufführung der „Opera Avenir“ am Theater Basel, also einer Art einjährigem Meisterkurs von bereits fertig ausgebildeten Sängerinnen und Sängern. Unterstützt wurden sie von Studierenden der Hochschule für Musik Basel sowie den beiden Profis, dem Ensemblemitglied Andrew Murphy als Tod sowie, last but not least, dem Leiter von Opera Avenir, dem Dirigenten und Pianisten Stephen Delaney, der alle mit seinem Engagement und seiner Begeisterung mitriss und den Abend zu einem donnernden Erfolg führte.
Nächste Aufführungen. 11., 13., 18., 19.,26., 27. Februar