Heute, Freitag und am Samstag treffen sich die Staats- oder Regierungschefs ihrer 28 Mitglieder in Warschau, um Antworten auf die gefühlte russische Bedrohung ihrer Ostflanke zu finden.
Steinmeiers Mahnung
Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel bot Wladimir Putin gestern ihre „ausgestreckte Hand für einen Dialog“ an. Der Nato-Gipfel ziele sowohl auf eine klare Solidarität zwischen allen Bündnispartnern und der Abschreckung von Aggressionen wie auch auf den Dialog mit Russland ab, sagte Merkel.
Das klingt vernünftig, wird aber nicht von allen gleich aufgefasst. In der Nato und selbst innerhalb der Regierungen treten Brüche zutage. Der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte dem Massenblatt „Bild am Sonntag“: „Was wir jetzt nicht tun sollten, ist durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen.“ Er meinte damit die Militärmanöver und Stationierungspläne der Nato in Polen und den baltischen Staaten.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im deutschen Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), nannte Steinmeiers Worte einen „ungeheuerlichen Vorwurf“. Etliche konservative Politiker schlossen sich Röttgen an. Merkel schweigt.
Die Furcht der Balten
Was sind die Fakten? Russland hat 2014 durch die Annexion der mehrheitlich von Russen bewohnten, aber politisch zur Ukraine gehörenden Halbinsel Krim das Völkerrecht gebrochen. Auch die militärische Unterstützung der russischsprachigen Sezessionisten in der Ostukraine stellt eine verbotene Intervention dar. Die Angst der baltischen Staaten, unter irgendeinem Vorwand von Moskau wieder heim ins Reich geholt zu werden, ist daher verständlich. Estland und Lettland wurden 1721 von Peter dem Grossen nach seinem Sieg über die Schweden in Russland eingegliedert.
Auf die Annexion der Krim vor zwei Jahren antwortete der Westen zuerst mit Wirtschaftssanktionen gegen Russland und dann mit einer eher symbolischen Militärhilfe für Polen und die baltischen Staaten, die nach dem Zerfall der Sowjetunion der Nato beigetreten waren. Ein unter George W. Bush beschlossenes Raketenabwehrsystem, das die Nato angeblich vor iranischen Flugkörpern schützen sollte, wurde von Barack Obama zunächst eingestellt und jetzt reaktiviert, obwohl Iran nach dem Nuklearabkommen von 2015 gar nicht mehr in der Lage ist, Atomwaffen zu bauen.
Militärische Eskalation
Die Folge war eine rasche militärische Eskalation. Durch die von einigen Nato-Staaten wiederbelebten Pläne, die Ukraine und Georgien in das Bündnis aufzunehmen, sieht sich Russland in seinen Einkreisungsängsten bestätigt. Putin verstärkt und modernisiert zügig die russischen Streitkräfte.
Im Gegenzug beschloss die Nato, 4000 Soldaten in Polen, Estland, Lettland und Litauen zu stationieren. Sie sollen eine Art „Stolperdraht“ gegen einen russischen Angriff bilden. Sie gelten als Faustpfand, dass die Nato jede Aggression gegen eines ihrer Mitglieder kollektiv abwehrt, wie es der Bündnisvertrag verlangt.
Das Manöver „Anakonda“
In einer 1997 mit Moskau vereinbarten „Grundakte“ verpflichtete sich die Nato, keine ständigen multinationalen Truppen an die Grenze zu Russland zu verlegen. Diese Selbstbeschränkung wird jetzt umgangen, indem man die Soldaten als „rotierende Einheiten“ deklariert. In Polen sollen die USA, in Estland die Briten, in Litauen die Deutschen und in Lettland Kanada das Kommando übernehmen.
Vor allem der derzeitigen national-konservativen Regierung in Polen genügt die Entsendung von vier Nato-Brigaden an ihre Ostgrenze aber nicht. Am 7. Juni begannen 31´000 Soldaten aus Polen und anderen Nato-Staaten ein Grossmanöver mit dem Namen „Anakonda“, das die Abwehr einer russischen Invasion durchspielte. Kurz darauf fand in den baltischen Staaten die Übung „Saber Strike“ mit 10´000 Soldaten aus 13 Ländern statt. Moskau sieht darin eine Provokation. Besonders stört die Russen, dass am „Säbelstreich“ auch ukrainische und georgische Einheiten teilnahmen.
Wiederaufnahme des Dialogs
US-Aussenminister John Kerry flog diese Woche in die Ukraine und nach Georgien, um diesen beiden Anrainern des Schwarzen Meeres mehr Militärhilfe zuzusichern. Hoffnung auf eine baldige Mitgliedschaft in der Nato machte Kerry seinen Gesprächspartnern aber nicht. Georgiens Aufnahmegesuch liegt seit 2008 in der Schublade.
Wie lässt sich die brandgefährliche Rüstungsspirale wieder zurückdrehen und neues Vertrauen schaffen? Am Donnerstag kamen die Nato und Russland überein, am 13. Juli in Brüssel ein Treffen auf Botschafterebene abzuhalten. Der gemeinsame Rat lag seit April auf Eis. Damit wird immerhin der Dialog wieder aufgenommen, wie es Angela Merkel angeregt hat.
Eine der Schwierigkeiten, in Warschau Nägel mit Köpfen zu machen, liegt in der Uneinigkeit der Nato-Staaten. Frankreich zum Beispiel wirft die Frage auf, wer beim geplanten Raketenabwehrsystem am Drücker sein soll. Und wer soll all das bezahlen? Die Hände reibt sich nur die Rüstungsindustrie, die schon jetzt einen enormen Gewinnzuwachs verzeichnet.