Obwohl nur wenige Hinweise vorliegen, wimmelt es von Vermutungen über das Tatmotiv. Und obwohl nur wenig Sachdienliches bekannt ist, sind viele Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik und Medien überzeugt zu wissen, was den aus Somalia geflüchteten Täter angetrieben hat. Der Soziologe Ruud Koopmans schrieb: «Die ideologischen Grundlagen dieser Gewalt werden nicht ernst genommen.» Der Politologe Peter R. Neumann war sich sicher: «Natürlich ist der Hintergrund [der Tat, R. S.] islamistisch.»
Islamismus – alles erklärend
Bemerkenswert daran ist weniger die Sicherheit, mit der die Wissenschaftler ihre Ansicht vortragen. Erwägungen, dass alles vielleicht ganz anders sein könne, werden nicht gemacht. Bedeutsamer ist die Tatsache, dass das Motiv aus allgemeinen Behauptungen abgeleitet wird: Aus der Annahme, die hinsichtlich einer religiösen Ideologie namens Islamismus gemacht wird, wird auf die Motivlage des Täters geschlossen. Und genauso wird der Täter gesehen. Er sei von einer ideologischen Vorstellung geleitet, gewissermassen als ausführendes Organ eines finsteren Islamismus, der sich zahlreicher Facetten bediene, um sich gegen den Westen durchzusetzen.
Die Zuordnung des Täters zum Islamismus ist denkbar einfach: Dazu genügen erstens die vermeintlich oder tatsächlich vom Täter gemachte Äusserung «Gott ist gross», mit der er sein Morden begleitet habe, dann schriftliche Hassbotschaften in seiner Unterkunft, die von der Presse als Propagandaschriften des sogenannten Islamischen Staats dargestellt wurden, und schliesslich die Tatsache, dass der Täter aus Somalia stammt und dort nach Aussagen eines Zeugen in den Jahren 2008/2009 als elf- oder zwölfjähriger an Morden der ultraislamischen Shabab-Milizen beteiligt gewesen sein soll. Das ist wenig und lässt kaum Rückschlüsse auf sein Tatmotiv zu.
Kultureller Determinismus
Der Begriff «Islamismus» suggeriert eine Familienverwandtschaft, die zwischen ultrareligiösem Terror, Muslimbrüdern, Burka, Kopftuch, Koranversen, Antisemitismus, Hamas und den iranischen Ayatollahs bestehe. Er unterstellt, es gäbe eine kohärente Weltsicht, die durch die politische Auslegung des Islam entstünde. Nicht wenige, wie der Orientalist Michael Cook, behaupten, dass Muslime, die ihre Religion in einen politischen Zusammenhang stellten, zwangsläufig zu Islamisten würden. Denn die Muslime seien pfadabhängig, wenn sie ihre Tradition politisch ins Spiel bringen wollten.
Diese Pfadabhängigkeit spiegelt die Grundvorstellung eines kulturellen Determinismus. Während er für Muslime bedeutet, dass sie als Muslime durch den Islam determiniert seien, wird für Europa behauptet, dass das Europäisch-Sein durch christlich-jüdische Werte bestimmt sei. Zugehörigkeit wird also fundamentalisiert, und das gilt besonders dann, wenn Täter wie der Mörder von Würzburg durch den Verweis auf Herkunft und Religion einer anderen Welt zugeschlagen werden kann.
Der Begriff Islamismus deklariert somit eine Wirklichkeit, die es nicht gibt. Die Einbettung von Deutungswelten in den Islam produziert keine einheitliche Ideologie, sondern ein breites Spektrum von politischen, sozialen oder religiösen Vorstellungen. Die Erfahrungen früherer Attentate in Grossbritannien, Frankreich und Österreich zeigen, dass Erklärungen, die mit «Islamismus» oder «religiösen Ideologien» hantieren, hier keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben.
Motivation
Statt also in einem Top-down-Verfahren von allgemeinen Annahmen über einen globalen Islamismus auf das Tatmotiv zu schliessen, sollte aus der Spezifität der Tat eine Theorie gebildet werden, die ein Motiv plausibel macht. Nach allem, was bisher durch die Medien bekannt wurde, lässt sich folgendes grobes Bild zeichnen: Der Attentäter von Würzburg folgte offenbar einem Handlungsmuster, durch das er angeblich erlittene Schmach und Schande mit einer Schmähung und Schändung des Islam und damit für ihn Gottes gleichsetzte und sich zu einer Vergeltungstat selbst ermächtigt sah. Diese Gleichsetzung ist wahnhaft. Er nannte das wohl «seinen Dschihad». Ob und in welchem Umfang er sich zur Rechtfertigung seines Wahns einen Islambezug herstellte oder gar Hassreden übernahm, die als Propaganda des sogenannten Islamischen Staats gedeutet werden könnten, ist unklar. Zudem werden wohl erst Gerichte feststellen, ob der Täter zum Zeitpunkt seiner Tat überhaupt zurechnungsfähig war.
Die Tat zeigt, dass nicht eine «Islamismus» genannte religiöse Ideologie den Täter antrieb, sondern eine religiös verbrämte Form von wahnhafter Selbstermächtigung, die viel Ähnlichkeit mit der Motivlage bei einem «school shooting» hat. Opfer waren fast ausschliesslich Frauen. Dies allein schon lässt auf eine misogyne Haltung des Täters schliessen, durch die es eine merkwürdige Form der Bindung zwischen Opfer und Täter gab, wieder ähnlich wie beim School Shooting. Die nach aussen erscheinende religiöse Verbrämung des Tatmotivs überdeckt einen Wahn, der im Täter gewachsen ist.
Welcher Islambezug?
Ob der Täter bei seiner Tat tatsächlich einen Islambezug hatte, ob es also einen «islamistischen Hintergrund» der Morde von Würzburg gab, ist angesichts der dürren Faktenlage schwer zu beurteilen. Nehmen wir aber einmal an, dass es einen solchen Bezug gab und dass der Täter tatsächlich sein Tun islamisch markierte. Dann können wir davon ausgehen, dass der Täter den Islam wie eine Sprache nutzte, um seiner Gefühlserfahrung eine innere Logik zu verleihen und zugleich als Denkwelt, um sich seine subjektive Leiderfahrung und Heilserwartung verständlich zu machen. Er handelte damit nicht aufgrund einer «religiösen Ideologie» und war auch nicht durch den «Islam» zu seiner Tat motiviert, sondern durch seine psychische Verfasstheit; daher erinnert seine Tat mehr an «school shooting» als an den Gewaltextremismus der italienischen Roten Brigaden oder der deutschen RAF.
Der Islam, den der Täter dann in sich selbst erschafft, dient allein der subjektiven moralischen Rechtfertigung seines Tuns und der Plausibilisierung einer inneren Logik, mit der er seine Tat durchführen kann. Aus der Sicht des Täters handelt es sich um eine sogenannte «Gerechtigkeitstat», mit der er an Gottes Feinde, also seine Feinde, die allein dadurch Gott (also ihm) feindlich sind, einfach weil sie da sind, Vergeltung beziehungsweise Rache übt. Unmittelbar verbunden mit der Tat ist die eigene Katharsis, die einzutreten scheint, wenn der Täter selbst ums Leben kommt.
Mit einer religiösen Ideologie hat dies nichts zu tun; die Morde folgen eben nicht einer ideologischen Zielsetzung, sie sollen nichts bewirken und schon gar nicht mobilisierend wirken. Sie sind radikal gedacht eine ultrareligiöse Form von Gottesdienst.
Prekäre Biografien
Damit wird klar, dass der Hintergrund des Mordens und Wütens in der Person des Täters liegt beziehungsweise in seiner prekären Biografie. Zweimal war der Mörder von Würzburg zuvor in die Psychiatrie eingewiesen worden, und in beiden Fällen sah man von einer längeren stationären Behandlung ab. Das Bild eines sich zu einer religiös verbrämten Vergeltungstat ermächtigenden Menschen ist offenbar klinisch schwer zu fassen und schwer therapeutisch zu konturieren. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass die Psychiatrien und ihr Personal auf solche prekären Biografien schlecht vorbereitet sind und nur selten über jene Expertise verfügen, die aus der islamisch-religiösen Verbrämung die richtigen Schlüsse auf die Handlungsmotive des Betroffenen ziehen lassen.
Besonders dramatisch und problematisch kann es werden, wenn Menschen mit solchen prekären Biografien direkt (z. B. Anis Amri, 19. Dezember 2015, Berlin) oder indirekt (z. B. Abdullah Ansorow, 16. Oktober 2020, Mord an Samuel Paty) durch ultraislamische Terrorbünde rekrutiert werden und dabei eine Motivverstärkung erleben, die ihnen die Richtigkeit ihres Wahns zu bestätigen scheint. Doch auch dann kann nicht davon gesprochen werden, dass die Attentate «islamistisch» motiviert seien. Die ultrareligiösen Vorstellungswelten, die von führenden Köpfen des «Islamischen Staats» verbreitet wurden, sind weder Ideologie noch Theologie. Sie konstituieren eine neue Form des Religiösen, durch die auch der Islam eine völlig andere Bedeutung erlangt hat. Aber das ist ein anderes Thema.