Vor 23 Jahren hörte der Staat DDR zu existieren auf. Die heutige junge Generation kennt ihn nur als historisches Thema. Diese zweite deutsche Diktatur des 20. Jahrhunderts steht im grossen Schatten der ersten. Hitler und das Dritte Reich hatten eine Menschheitskatastrophe bewirkt, die so tief in die westliche Kultur und Zivilisation eindrang und so gewaltige politische Ausmasse hatte, dass im Vergleich die DDR heute als relativ harmlos wahrgenommen wird.
Schon bald nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde eine eigentümliche «Ostalgie» salonfähig, unter Ost- wie Westdeutschen kursierten die «Es-war-eben-doch-nicht-alles-so-schlecht»-Geschichten, und Produkte wie der Trabi, die Spreewaldgurken oder der Rotkäppchensekt erlangten Kultstatus. Exponenten wie Walter Ulbricht und Erich Honecker wurden zudem im Westen eher als Witzfiguren gesehen denn als die Despoten, die sie tatsächlich waren. Und manche Hardliner und beflissenen Mitläufer des Regimes fanden in der Partei «Die Linke» Unterschlupf und bequeme demokratische Legitimierung. Kurz: Eine der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vergleichbare Vergangenheitsbewältigung hat im Blick auf die marxistisch-leninistische Diktatur noch kaum eingesetzt.
Geschichten verarbeiten Geschichte
Ein Verhältnis zur eigenen Geschichte zu finden, ist ein Prozess, bei dem erzählte Geschichten die vielleicht wichtigste Rolle spielen. Solche wirksamen Geschichten sind auch im Blick auf die untergegangene DDR geschaffen worden. Ich erwähne nur die grossartigen Spielfilme «Das Leben der Anderen» von Florian Henckel von Donnersmarck (2006) und «Barbara» von Christian Petzold (2012) sowie den grossen Roman «Der Turm» von Uwe Tellkamp (2008). Solche fiktionale Erzählungen haben die Kraft, Zuschauer und Leserinnen in für sie fremde Situationen hineinzuversetzen und an Erfahrungen heranzuführen, die ihnen sonst verschlossen blieben. Es ist nicht die moralische Anklage, die bewegt, sondern in der Erzählung geschaffene Realität.
Hier ist eine solche Erzählung vorzustellen, die nicht erfunden, sondern erinnert ist. Caritas Führer, 1957 als Tochter des später durch die Leipziger Montagsdemonstrationen bekanntgewordenen evangelischen Pfarrers geboren, erinnert sich in «Die Montagsangst» an ihre Schulzeit in der DDR. Die nur gut 60 Seiten starke Erzählung kam erstmals 1998 heraus. Sie schildert die Welt des Kindes aus dessen Perspektive. In der Pfarrfamilie Führer galt der strenge Kodex der bekennend christlichen Dissidenz gegenüber dem atheistischen und propagandistisch aggressiven Staat. Die Kinder blieben den Pionieren und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) – Jugendorganisationen der allmächtigen Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) – fern. Sie nahmen nicht an der vom Staat veranstalteten Jugendweihe teil, sondern wurden in der Kirche konfirmiert. Selbstverständlich besuchten sie Gottesdienste und waren in der Kirchengemeinde aktiv. Der christliche Glaube schottete die Familie gezwungenermassen gegen ihre soziale Umwelt ab, denn im DDR-Alltag wurden von Gross und Klein bei allen möglichen Gelegenheiten Bekenntnisse zur Staats- und Parteidoktrin verlangt.
Systematische Benachteiligung
Caritas Führer war ein hochbegabtes und eigensinniges Kind, notorisch Klassenbeste zwar, aber wegen fehlender «gesellschaftlicher Tätigkeit» dauernd gerügt und schikaniert. Das Schlimmste waren die Montage, die mit dem Fahnenappell auf dem Schulhof ein ständiger Spiessrutenlauf waren. Ohne Pionierbluse und FDJ-Hemd war Caritas zum Abseitsstehen verknurrt. Das Schlimmste war die ständige Angst, bei diesem Zeremoniell vor allen Mitschülern gemassregelt und blossgestellt zu werden.
Bei ihrem störrischen Naturell konnte es nicht ausbleiben, dass sie öfters aneckt. Sehr genau nimmt sie die Verhaltensweisen der Erwachsenen wahr: die der Lehrerin, die ihr wohlgesinnt ist, aber jede Reibung mit der bleiern auf der Schule lastenden Parteimacht scheut; die des sich mal aufplusternden, mal kriecherischen Schuldirektors; die des unauffällig menschlichen Zeichenlehrers, der ihr Talent fördert und am Ende einem Zufall in die Hände spielt, der für Caritas in übler Lage zur Rettung wird. Der Zeichenlehrer hat ohne ihr Wissen eines ihrer Bilder bei einem indischen Jugend-Malwettbewerb eingereicht, und unverhofft kommt aus der Ferne die Goldmedaille. Es folgen die mechanisch ablaufenden Ehrungen nach den Ritualen der DDR. Wie im Slapstick stolpert die Geschichte in dieses Happy-End hinein, und Caritas Führer vermeldet es genauso kurz und bündig wie die vorangegangenen Ungeheuerlichkeiten.
Dokumentarische Authentizität
Konsequent bleibt die Autorin bei der Sicht des Kindes. Da wird nichts mit grösserer Übersicht erläutert, nichts aus wissender Position interpretiert. Der Denkhorizont ist derjenige dieses überaus intelligenten und feinfühligen Kindes. Irritationen sind nicht weggebügelt. Die kleine Caritas kann ein rechtes Biest sein, in der Familie knirscht es bisweilen unter der frommen Oberfläche, und der Vater ist für seine Tochter nicht immer zugänglich, wenn sie seine Nähe bräuchte. So wenig die Innenwelt weiss ist, so wenig ist die äussere schwarz. Die geliebte Lehrerin, die ihr bei der Schulwanderung die Hand verweigerte, reicht sie ihr später in einem entscheidenden Augenblick. Freundinnen aus angepassten oder zumindest nicht-dissidenten Familien halten zu ihr, soweit sie es können.
Die formale Kohärenz der novellistisch gestalteten Erzählung trifft sich mit der dokumentarischen Authentizität, und beides verleiht ihr eine schlichte Überzeugungskraft. «Die Montagsangst» ist so erzählt, dass auch Kinder die Geschichte lesen können. Für Erwachsene ist sie zum einen das literarische Dokument einer wenig beachteten Facette der DDR, nämlich ihres zur Disziplinierung missbrauchten Bildungssystems. Zum anderen stellt die Erzählung die Leser vor beunruhigende Fragen: War es richtig, wenn Familien wie die Führers ihren Kindern Loyalität gegenüber der elterlichen Dissidenz abverlangt und sie damit in zahllose Loyalitätskonflikte mit ihrer sozialen Umwelt gestürzt haben? Oder handelten diejenigen Regimekritiker verantwortlicher, die ihre Kinder bei all den «gesellschaftlichen Tätigkeiten» bis hin zum martialischen Wehrkunde-Unterricht mitmachen liessen, deren Absolvierung in der DDR Bedingung war für die Zulasssung zu Abitur und Studium?
Die Erzählung entscheidet nicht zwischen diesen beiden Positionen. Das Kind beneidete einerseits die Kameradinnen, die in aller Selbstverständlichkeit dazugehörten. Andererseits aber durchschaute und verabscheute es früh die Gehirnwäsche, die da betrieben wurde. Mit dem Dilemma von Widerstand und Anpassung kämpften alle Eltern in der DDR, die zu Staat und Partei auf Distanz gingen, und sie haben es unterschiedlich – und mit unterschiedlichem «Erfolg» – gelöst. Eine Publikation des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen hat dies dokumentiert («Aufrecht im Gegenwind. Kinder von 89ern erinnern sich», herausgegeben von Sebastian Pflugbeil, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2011).
Versuch, in der Wahrheit zu leben
Es ist eine der geheimnisvollen Qualitäten von Literatur, dass die Erzählung oft mehr weiss als ihre Figuren, ja manchmal auch mehr als ihr Autor. Caritas Führers Geschichte «weiss», dass die strikte Dissidenz ihrer Eltern die richtige Entscheidung war, und dass sie gut daran taten, die sechs Kinder zur gleichen unbeugsamen, kämpferischen Haltung zu erziehen. Die Konsequenzen der sozialen Stigmatisierung und des Ausschlusses von Abitur und Studium wurden, so gut es ging, in der Familie gemeinsam getragen, stellten aber doch jedes Kind individuell vor die Herausforderung, unter diesen Vorbedingungen seinen eigenen Weg zu finden. Kompromisslosigkeit forderte in jedem Fall einen hohen Preis. Im Kern des Dilemmas – das erfasste die kleine Caritas glasklar und das wurde auch zum Kulminationspunkt ihres Konflikts mit der Schule – stand die Lügenhaftigkeit des Systems.
Angesichts der eklatanten Propagandalügen versuchten manche, sich wegzuducken und die explizite Zustimmung zu vermeiden. Andere nannten die Lügen beim Namen – und ertrugen die Folgen. Caritas Führer konnte nicht anders handeln. Für sie gab es im entscheidenden Moment nichts abzuwägen: Die Wandzeitung mit dem verlogenen Presseartikel musste runter. Für das System war dies eine Art Hochverrat. Es schlug mit aller Macht zurück, und die braven Bürger hauten mit drauf auf die Familie. In dieser Reaktion entlarvte sich der ganze Wahnwitz der Diktatur.
Die lange nach der Wende geschriebene Erzählung macht klar, was Caritas damals nicht wissen konnte: Mit solchen Haltungen wurden die Keime gelegt, die später die DDR implodieren liessen. Ihr Vater, Christian Führer, wurde mit den Friedensgebeten in der Leipziger Nicolaikirche 1989 und den Montagsdemonstrationen zu einem der Wegbereiter der Wende. Es war wohl unvermeidlich, dass im Vorlauf dieser Ereignisse er nicht nur sich, sondern auch seiner Familie den alltäglichen Zusammenstoss mit dem System nicht hatte ersparen können. Von daher erscheint es naheliegend, dass seine aufgeweckte Tochter mit grosser Selbstverständlichkeit sich für das entschied, was Václav Havel den «Versuch, in der Wahrheit zu leben» genannt hat.
Caritas Führer: Die Montagsangst. Erweiterte Neuausgabe, List Taschenbuch, Ullstein, Berlin 2012, 296 S.
Die Neuausgabe bringt ein Vorwort von Marianne Birthler, eine ausführliche Wirkungsgeschichte der Erzählung sowie ein ausgezeichnetes Glossar der im Text vorkommenden DDR-typischen Begriffe.