Auf der letzten Frankfurter Buchmesse sind mir zwei Bücher ins Auge gestochen, deren Lektüre verspricht, Leserinnen und Leser zu informierten Zeitgenossen zu befördern. Es sind zwei Bücher über alles, zumindest soweit wir Horizonte unserer Menschenwelt abschreiten.
Die Perspektiven könnten kaum unterschiedlicher sein, was gute Aussichten lässt, sie könnten sich blendend ergänzen. Das erste trägt den von sich überzeugten Titel «Wie die Welt wirklich funktioniert», das zweite den lakonischeren «Regeln. Eine kurze Geschichte». Der Autor und die Autorin sind beide Wissenschaftler ersten Ranges.
Vaclav Smil, Autor des ersten der beiden Bücher, ist Distinguished Professor Emeritus für Umweltwissenschaften an der University of Manitoba in Winnipeg, Kanada, und hat über Energie und Fragen der Umwelt, Bevölkerung, Ernährung, Wirtschaft und staatlichen Handelns über drei Dutzend Bücher geschrieben. Von keinem anderen sind in der führenden Wissenschaftszeitschrift «Nature» mehr Werke besprochen worden. Wie für Smil gilt ebenso für die Autorin der «Regeln»: Bei beiden ist die Interdisziplinarität in Person am Werk.
Lorraine Daston ist emeritierte Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und war Gastprofessorin in Paris, Wien, Chicago, Oxford usw. Ebenfalls im vergangenen Herbst brachte das Deutschschweizer Fernsehen eine denkwürdige Sternstunde Philosophie mit ihr und Wolfram Eilenberger. Beide, Smil und Daston, legen in den besagten Büchern eine Summe ihrer Forschertätigkeit aus Jahrzehnten vor.
«Die fossilen Grundlagen unserer Zivilisation und die Zukunft der Menschheit» lautet der Untertitel von Smils Werk. Dieses lässt sich nicht besser charakterisieren als durch die schlichte Wiedergabe des Inhaltsverzeichnisses:
- Energie verstehen: Brennstoffe und Elektrizität
- Die Nahrungsmittelproduktion verstehen: Wie wir fossile Brennstoffe essen
- Unsere materielle Welt verstehen: Die vier Säulen der modernen Zivilisation
- Die Globalisierung verstehen: Maschinen, Mikrochips und mehr
- Risiken verstehen: Von Viren über Ernährungsweisen zu Magnetstürmen
- Die Umwelt verstehen: Die einzige Biosphäre, die wir haben
- Die Zukunft verstehen: Zwischen Apokalypse und Singularität
In diesen sieben Kapitelüberschriften ist sehr wenig erläuterungsbedürftig. Die vier Säulen unserer materiellen Welt sind (mit globalem Jahresverbrauch 2019): Zement (4,5 Milliarden t), Stahl (1,8Mrd. t), Kunststoffe (370 Millionen t) und Ammoniak 150 Mio. t). Dem Letzteren gibt Smil die Spitzenposition unter unseren lebenswichtigsten Stoffen, da die Ernährung einer Weltbevölkerung von acht oder demnächst zehn Milliarden Menschen ohne Stickstoffdünger vollkommen undenkbar wäre.
Rund zwei Drittel dieser ungewöhnlich leserlichen 320 Seiten bieten einen Überblick über die Produktionskräfte und -mittel unserer Weltwirtschaft, das Augenmerk durchgehend auf ihrem Bedarf an Energie und deren bisherigen wie möglichen zukünftigen Quellen. Kapitel 5 evaluiert die Gefahren seitens Natur und Technik, welche die uns bekannte Zivilisation und die Menschheit, unabhängig von den Grenzen ihrer produktiven Kapazitäten, in ihrem Fortbestand bedrohen. Das Risiko ist bekannt als tückische, anforderungsreiche Thematik.
Kapitel 7 fragt nach den prognostischen Kompetenzen unserer einzigartig intelligenten Spezies, die darin facettenreichen Tendenzen traditionsreicher und teils massiver Selbstüberschätzung unterliegt. In Smils wissenschaftlicher Schule hätten halsbrecherische Fortschrittsvisionäre und Posaunisten von Untergangsszenarien gemeinsam nachzusitzen. Von Smil selber hat man weder optimistische noch pessimistische Bekenntnisse zu erwarten. Stattdessen tritt er mit allem Nachdruck dafür ein, dass in relevanten politischen Debatten und Prozessen der Entscheidungsfindung auf den höchstmöglichen Informationsstand nicht verzichtet werden dürfte. Sein Buch (erschienen im Herbst 2023 bei C. H. Beck in München) ist ein herausragender Beitrag zu Bestrebungen mit diesem Ziel.
Auf Mitte März ist von Smil die deutsche Ausgabe einer Sammlung von Kurzessays angekündigt, die im Original schon seit 2021 vorliegt: «Zahlen lügen nicht: 71 Geschichten, um die Welt besser zu verstehen» (ebenfalls bei C. H. Beck). Drei Seiten das Stück im Schnitt: Impfungen oder die ertragreichste aller Investitionen. Unsere Batterien auf dem unbefriedigenden letzten Stand. Warum gibt es Maschinen schon länger als Fahrräder. Wie viele Leute hat der Bau der Pyramiden gebraucht. Was ist Innovation. Was ist Lebensqualität. Vorzüge des Sonnenlichts. Eben: 71 Geschichten. Eine hochunterhaltsame Lektüre.
Regeln gab es schon in der Steinzeit, und seitdem sind sie nicht weniger geworden. Viel Zeit hatte ins Land zu gehen, bis daraus Gesetze oder gar Algorithmen wurden. Lorraine Dastons «Regeln. Eine kurze Geschichte» (Suhrkamp Herbst 2023) ist ein ebenso dichter wie in der Stofffülle ungemein vielseitiger Text. Bei der Lektüre der Einleitung stellt sich mitunter das Gefühl ein, man müsste das Buch schon gelesen haben, um folgen zu können.
Tatsächlich handelt es sich um eine Geschichte von der Antike, ihrer Geometrie und Astronomie, ihren Ethiken, ihrer Pädagogik, Dramaturgie, der Politik und dem Kriegshandwerk über das Mittelalter, die frühe und spätere Neuzeit bis auf den heutigen Tag und vielleicht weit darüber hinaus. Für sein zeitweilig unabdingbares Standvermögen wird der Leser reich entlohnt. «Führe dein Pferd möglichst sanft zum Rennplatz, und gib ihm die Möglichkeit, den Dung anderer Pferde zu riechen, um es anzuregen, sich gleichfalls beim Gehen zu entleeren.» Die Arten der Regeln sind noch vielfältiger als die Anwendungsbereiche. Mit einem Minimum an Lücken geregelt präsentiert sich Historikern das Mittelalter, wenn auch noch beinahe ohne Gesetze, dafür mit Kirchen und Höfen, das heisst den Regelwerken robuster Institutionen und darin wirkenden unangefochtenen Vorbildern, ein nicht gering zu veranschlagender Typ von Regeln.
Die Neuzeit, die mit der interkontinentalen Seefahrt und dem Buchdruck einsetzt, demontiert die geschlossene Welt des Mittelalters in wissenschaftlichen, kommunikativen, kommerziellen und gesellschaftspolitischen Aufbrüchen, in welchen die Entwicklungen sich nur ganz am Rande aus Studierstuben und Hörsälen der frühen Universitäten, sondern vielmehr durch praktische Innovationsschübe auf allen erdenklichen Anwendungsfeldern menschlicher Produktion und Reproduktion vorantreiben.
Der Druck mit beweglichen Lettern durchflutet Gesellschaft und Wirtschaft mit Handbüchern und Gebrauchsanweisungen zu allerart Handwerk und Ingenieurskünsten, zu staatlicher und kommerzieller Administration, die Unternehmern und Anwärtern auf Kaderpositionen in der Verwaltung das Lesen- und Rechnenlernen abverlangt haben, ein anforderungsreicher und oft qualvoller Prozess gesamtgesellschaftlicher Einübung von Regeln, der sich über Jahrhunderte hinzog. Bei Lorraine Daston lernen wir mit und nach, was vom ersten disziplinierten Umgang mit dem Dreisatz bis zum zeitgenössischen Algorithmus für ein Spiessrutenparcours zu durchlaufen war. Die Tyrannei der Maschinen hat dabei nicht auf Chat GPT und die heutigen Debatten um die wahre Natur künstlicher Intelligenz gewartet. Die sich von der Theologie emanzipierenden neuzeitlichen Wissenschaften waren und sind eine Begleiterscheinung. Wir entdecken mit Füssen und Händen, im gelingenden Fall folgt der Kopf nach. Mit Männern wie Galilei und Descartes bringt das 17. Jahrhundert überragende Forscher und Denker hervor, die etwas absolut Neues entdecken, um nicht zu sagen erfinden: nämlich Naturgesetze – zu einer Zeit, als zugleich mit der Natur auch das Recht und die Grundlagen seiner Gesetze neu gedacht werden mussten.
Aber das Buch von Daston beglückt uns zudem mit Einblicken in jahrhundertelange Abfolgen nicht nur von Kochbüchern. Die 26-seitige Liste der Fürstlichen Sächsischen Landesordnung von 1695 belegt als eines von zahllosen Schriftstücken den vergeblichen Kampf der Obrigkeit um die Hoheit über die instabilste menschliche Kulturleistung, nämlich die Kleidermode. Ein halbes Jahrtausend Irrsinn der Bekleidungsvorschriften, die zugleich die Rangfolge der Untertanen zu klären gehabt hätten, beweist das Beharrungsvermögen in Bürokratien aller Länder, wo keine höchste Höhe des Scheiterns jemals in Kapitulationstendenzen münden kann. Es bleibt nur, ein halbes Kapitel über Jahrhunderte von Rechtschreibereformbemühungen in sämtlichen modernen Sprachen mit Schweigen zu übergehen.
Dastons Geschichte der Regeln ist durchwegs eine Geschichte von deren Anwendungen, ihrer stets unabsehbar besonderen, schlecht über einen Leisten zu scherenden Umstände und – nie zu vergessen! – der Bedingungen von Ausnahmen natürlich wiederum unterschiedlichster Art. Humane Kultur ist das unausgesetzte, allgegenwärtige Bestreben, im Besonderen das Allgemeine zu entdecken und aus dem Allgemeinen in geläuterten Schlussfolgerungen zum Besonderen zurückzukehren, um dieses unter Kontrolle zu bringen.
Die Kasuistik ist eine Disziplin der Ethik, der Juristik und der Medizin. Gemäss ihrer Betrachtungsweise ist die Plausibilität von Regeln immer nur aus ihren stets individuellen und oftmals sehr besonderen Anwendungsfällen zu gewinnen. Dastons Buch ist eine allseitige Kasuistik des Menschendaseins, die übrigens auch das Krankenhaus nicht vergisst mit seinen Ärzten und deren mehr und minder ergründlichen, sprich mehr und minder regelgeleiteten Ratschlüssen. Daston versteht es, sogar in Wegleitungen zur Steuererklärung Licht zu bringen – oder zumindest unseren Ingrimm ob deren Zumutungen zu mildern. Nebenbei erfahren wir, woher Paragraphen auf uns gekommen sind. Zu guter Letzt lernen wir endlich, was das Wort «Aktualität» bedeutet, eine Neubildung, die der «Dictionnaire der Académie française» von 1878 als mit dem «génie» der französischen Sprache unvereinbar abgelehnt hat.
Das englische Original «Rules. A Short History of What We Live By» ist übersetzt vom besten und tatkräftigsten mir bekannten deutschen Sachbuchübersetzer Michael Bischoff. Zur Bewältigung von Dastons 330 Seiten Regeln empfehle ich Tagespensen von 20 Seiten.
Ich schnaufe auf und öffne das Paket meines deutschen Lieblingsverlags C. H. Beck, das gestern eingetroffen ist. 1319 Seiten des Historikers Wolfgang Behringer: «Der grosse Aufbruch. Globalgeschichte der Frühen Neuzeit». Es ist die Geschichte des Aufbruchs der Alten Welt in die Neue Welt. Und damit der europäischen Kultur als Geschichte ihrer rund um den Globus verteilten Quellen. Sie schaut auch auf Hannos Elefanten zurück, und wir begegnen Dschingis Khan und der Goldenen Horde, die unsere Welt mitgestaltet hat. Sie weiss noch um die Existenz der grossen mittelalterlichen Kalifate unserer damals so übermächtigen Nachbarn, die das Erbe der antiken Welt für uns gerettet haben. Auch in allem Folgenden geht es hier endlich immer um andere, wo immer es um uns geht. Spazieren Sie in Behringers Werk ein wenig herum, und Sie stellen fest, jede zwei Seiten machen Sie schlauer.