„Zero Dark Thirty“, Kathryn Bigelows Film über die Aktion der CIA gegen Al-Qaida-Führer Osama bin Laden in Pakistan, rühmt sich, „die Geschichte der grössten Menschenjagd der Geschichte und der Suche nach dem gefährlichsten Mann der Welt“ zu erzählen. Der 157-minütige Film, von Kritikern mehrfach ausgezeichnet, lief weltweit mit grossem Erfolg.
Sein Plot basiert überwiegend auf jener Version der Ereignisse in der Nacht zum 2. Mai 2011, die das Weisse Haus verbreitet hat und die die Medien seinerzeit bereitwillig übernommen haben. Schliesslich war es eine Wohlfühlgeschichte erster Güte, an der ganz Amerika sich labte: Tapfere US-Elitesoldaten hatten in einem riskanten Einsatz den Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001 in dessen Versteck in Abbottabad eliminiert und sich für jene Schmach gerächt, die der Saudi zehn Jahre zuvor der Nation zugefügt hatte.
Zu gut, um wahr zu sein?
So weit, so Hollywood. Aber war die ganze Geschichte nicht zu gut, um wahr zu sein? Einzelne kritische Stimmen wurden übertönt vom grossen Chor der Applaudierenden, zu denen in erster Linie der amerikanische Präsident gehörte, dem der Erfolg des Unternehmens der Navy Seals ein Jahr vor der Wiederwahl politisch höchst gelegen kam.
Wäre die Operation misslungen, Barack Obama wäre 2012 unter Umständen zum „schwarzen Jimmy Carter“ geworden. Carter hatte im April 1980 eine Militäroperation zur Befreiung jener 52 amerikanischen Diplomaten angeordnet, die im November zuvor während der Islamischen Revolution von iranischen Studenten in der US-Botschaft in Teheran als Geiseln genommen worden waren. Operation „Adlerklaue“ scheiterte, acht US-Soldaten starben am Sammelpunkt „Desert One“, als ein Helikopter und ein Transportflugzeug zusammenstiessen, und Jimmy Carter verlor wenige Monate später die Präsidentschaftswahl gegen Ronald Reagan.
Die Naivität der Kollegen
Nun aber ist eine kritische Stimme erneut dabei, sich in Sachen Osama bin Laden Gehör zu verschaffen. In einem langem Artikel für die „London Review of Books“ (LRB) sät der investigative Journalist Seymour Hersh Zweifel an der offiziellen Version der Tötung des Terroristen. Hersh ist als Aufdecker kein Unbekannter: 1969 zum Beispiel enthüllte er als freier Journalist das Massaker amerikanischer Truppen an über 500 Zivilisten im vietnamesischen My Lai.
Später berichtete Hersh für die „New York Times“ und heute schreibt er vor allem für den „New Yorker“. In einem Interview hat der 78-Jährige unlängst verraten, er schreie noch jeden Morgen bei der Zeitungslektüre auf, weil er sich über die Naivität oder die Willfährigkeit von Kollegen ärgere. Sein Rat an den journalistischen Nachwuchs: „Lest, bevor ihr schreibt!“ und „Steht der Geschichte nicht im Weg!“ Es gebe, sagt er, keine sensationellen Stories. Jede Geschichte, richtig geschrieben, sei eine Sensation.
Keine rein amerikanische Angelegenheit
Zumindest Aufsehen erregend ist Seymour Hershs Story „The Killing of Osama bin Laden“ aber schon. Er widerspricht der Behauptung des Weissen Hauses, wonach die Operation in Abbottabad eine rein amerikanische Angelegenheit war, von der die Pakistaner nichts wussten. Unter Berufung auf einen früheren Geheimdienstmitarbeiter berichtet Hersh, dass im August 2010 ein pakistanischer Überläufer dem CIA-Stationschef in Islamabad angeboten habe, Bin Ladens Aufenthaltsort zu verraten – im Gegenzug für einen Teil der 25 Millionen Dollar, die die USA 2001 auf den Kopf des Terroristen ausgesetzt hatten. Der Pakistaner soll heute unter einem Zeugenschutzprogramm in der Umgebung von Washington DC leben.
Dem Weissen Haus zufolge war die CIA dank minuziöser Ermittlungen und der Aufdeckung eines Netzes von Kurieren auf das Versteck des saudischen Terroristen in Pakistan aufmerksam geworden. Wobei Verteidigungsminister Bob Gates entschieden, aber vergeblich der Version der US-Regierung widersprach, Waterboarding und andere Arten „verstärkter Verhöre“ hätten Hinweise auf Bin Ladens Aufenthaltsort ergeben. In Washington DC wurde seinerzeit noch davon gesprochen, CIA-Mitarbeiter strafrechtlich zu verfolgen, die nach 9/11 gefoltert hatten.
Pakistan wusste
Laut Seymour Hersh wusste der pakistanische Geheimdienst (ISI) oder zumindest dessen Führung seit 2006 ganz genau, wo Osama bin Laden sich aufhielt. In Tat und Wahrheit soll der Saudi ein Gefangener des ISI gewesen sein, der ihn als Trumpfkarte im Umgang mit al-Qaida und den Taliban einzusetzen plante.
Auch hätten, so der Reporter in der LRB, General Ashfaq Parvez Kayani, Stabschef der pakistanischen Armee, und General Ahmed Shuja Pasha, Chef des ISI, zum Voraus von der amerikanischen Militäraktion auf ihrem Territorium gewusst und mit entsprechenden Ordern sichergestellt, dass die US-Navy Seals ungefährdet ihren Job, die Tötung Bin Ladens, ausführen konnten. Im Übrigen sei nie zur Diskussion gestanden, den Terroristen allenfalls auch lebend zu fangen. Dieser habe zudem auch nicht, wie behauptet, nach einer Waffe gegriffen und sich wehren wollen, bevor ihn Kopfschüsse trafen.
Einen Krüppel erschossen?
Hershs Geheimdienstquelle zufolge war Osama bin Laden in Wirklichkeit bereits seit einigen Jahren schwer krank, was aber im Weissen Haus niemand habe zugeben wollen: „Ihr meint, ihr Guys habt einen Krüppel erschossen? Der gerade nach seiner AK-47 greifen wollte?“. Ferner stimme nicht, dass es vor der gezielten Tötung Bin Ladens im Hof des Gebäudes in Abbottabad zu einem Feuergefecht gekommen sei. Die Selbstdarstellung der Seals als noble Krieger lasse es schlicht nicht zu, als kaltblütige Killer dargestellt zu werden.
Laut Seymour Hersh trifft ebenfalls nicht zu, dass die Navy Seals am 2. Mai 2011 im Gebäudekomplex einen „wahren Schatz“ an terroristischen Dokumenten und Unterlagen sicher stellten, die Einblick in die Aktivitäten al-Qaidas gewährten und bewiesen, dass Bin Laden innerhalb des Netzwerks nach wie vor eine wichtige Rolle spielte. Humbug, schreibt Hersh, denn CIA-interne Berichte hätten gezeigt, dass sich seit 2006 nur noch eine Handvoll Terrorattacken den Überbleibseln von al-Qaida zuschreiben liessen. “Das Weisse Haus musste den Eindruck erwecken, dass Bin Laden operationell noch immer wichtig war. Wie sonst hätte er getötet werden sollen?“, sagt die Geheimdienstquelle des Reporters.
Keine Seebestattung?
Schliesslich wirft Seymour Hersh dem Weissen Haus auch vor, aus Propagandagründen die Version erfunden zu haben, wonach Osama bin Ladens Leiche nach ihrer Identifizierung durch eine DNA-Probe auf dem Flugzeugträger „USS Carl Vinson“, wie es sich im Islam gehöre, in ein weisses Tuch gehüllt zur See bestattet worden sei. Was angeblich Aufnahmen dokumentieren, die allerdings trotz mehrerer Anfragen nie veröffentlicht worden sind.
Hersh zufolge hat die Seebestattung nie stattgefunden. Zwei langjährige Berater von Eliteeinheiten der US-Armee hätten ihm das bestätigt. Der eine von beiden habe ihm berichtet, die Tötung Bin Laden sei „politisches Theater gewesen, um Obamas militärische Glaubwürdigkeit zu stärken…Die Seals hätte diese Art politischen Posierens erwarten sollen. Politiker können dem nicht widerstehen. Bin Laden wurde zum Arbeitsinstrument.“
Die Leiche im Hindukusch abgeworfen
Das Problem, die Frage nach dem Verbleib der Leiche zu beantworten, habe sich zudem ergeben, weil Navy Seals, die an der Aktion in Abbottabad beteiligt waren, gegenüber Kollegen geprahlt hätten, Bin Ladens Körper sei von ihren Kugeln förmlich durchlöchert worden. Die Überreste, einschliesslich des Kopfs, der nur wenige Einschusslöcher aufwies, seien danach in einen Leichensack gepackt und, so die Elitesoldaten, auf dem Rückflug zum US-Militärflugplatz im afghanischen Jalalabad über den Bergen des Hindukusch zum Teil aus dem Helikopter geworfen worden.
Die Seals, argumentiert der Berater, hätten nicht damit gerechnet, dass das Weisse Haus den Erfolg der Aktion so rasch verkünden würde, sondern angenommen, Barack Obama würde sich an die vereinbarte Legende halten, wonach Osama bin Laden bei einem Drohnenangriff im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet getötet worden sei. So aber habe sich plötzlich die Frage nach dem Verbleib der Leiche gestellt und eine weitere Cover Story erfunden werden müssen.
Der CIA das Wissen verkauft
Carlotta Gall, während fast zwölf Jahren Korrespondentin der „New York Times“ in Afghanistan, stimmt aus ihrer eigenen Erfahrung Seymour Hershs Bericht zwar nicht vollständig, aber weitgehend zu - nicht zuletzt der Einschätzung, wonach der pakistanische Geheimdienst Osama bin Ladens Versteck kannte und ein früherer ISI-Agent der CIA sein Wissen verkaufte.
Gall ist sich aber nicht sicher, ob zwei pakistanische Top-Generäle tatsächlich von der US-Militäroperation in Abbottabad Kenntnis hatten wussten, obwohl sie es für möglich hält. Wie sonst sei zu erklären, dass sich die Navy Seals selbst nach dem sicher lautstarken und sichtbaren Zerstören eines Helikopters 40 Minuten lang auf dem Gelände aufhalten konnten, ohne von Polizei oder Armee gestört zu werden?
Zu viele grundlose Anschuldigungen?
Das Weisse Haus hat Anfang Woche Hershs Artikel in der „London Review of Books“ als „mit Ungenauigkeiten und klaren Fehlern gespickt“ zurückgewiesen. Ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates meinte, die ganze Story enthalte „zu viele grundlose Anschuldigungen, um ihnen im Einzelnen nachzugehen“.
Und was sagt Seymour Hersh am Ende seiner Geschichte? „Lügen auf höchster Ebene bleibt der Modus operandi amerikanischer Politik, einschliesslich geheimer Gefängnisse, Drohnenattacken, Nachteinsätzen von US-Spezialkräften, Umgehens des Dienstweges und Ausschlusses jener, die allenfalls Nein sagen.“
Quellen: „London Review of Books“; „The New York Times“; “The Independent”; “Columbia Journalism Review”; Wikipedia