Lukaschenko herrscht in der ehemaligen Sowjetrepublik Weissrussland (zehn Millionen Einwohner) seit 17 Jahren. Das heisst auch, er hat vielfältige Erfahrung, wie man schwierige Situationen meistert, um sich – wenn es sein muss auch mit skrupelloser Gewalt – an der Macht zu behaupten. Doch die jetzige Krise scheint geeignet, ihm mehr als frühere Stürme schlaflose Nächte zu bereiten. Seine in vielen Varianten erprobten Manöver, zwischen Moskau und dem Westen hin und her zu lavieren, um so die weissrussische Wirtschaft mit Hilfe von Konzessionen oder Krediten einigermassen am Laufen zu halten, funktionieren nicht mehr.
Totes Unionsprojekt mit Russland
Die vergleichsweise Stabilität der – wenn auch bescheidenen – materiellen Lebensverhältnisse aber war neben den autoritären Herrschaftsmethoden der wohl stärkste Pfeiler von Lukas langlebiger Macht in Minsk. Zwar hat man in Moskau das einst mit grossem Trommelwirbel angekündigte Projekt einer umfassenden weissrussisch-russischen Union angesichts von Lukaschenkos politischer Unberechenbarkeit längst ad acta gelegt, wenn auch nicht in aller Form begraben.
Doch trotz allen Verärgerungen bei den bilateralen Beziehungen, hat die russische Seite ihre Ansprüche, die Erdgas- und Erdöllieferungen an das Nachbarland zu vollen Weltmarktpreisen zu verrechnen und langfristig die Kontrolle über das weissrussische Pipelinenetz zu erlangen, bisher nicht mit voller Wucht vertreten.
Verspieltes Angebot der EU
Die relative Zurückhaltung Moskaus gegenüber dem eigenwilligen Machthaber in Minsk wurde offenbar durch das Kalkül beeinflusst, dass Lukaschenko den wirtschaftlichen Druck aus Russland ja durch eine gewisse Annäherung an westliche Länder ausgleichen könnte. Tatsächlich haben im vergangenen Herbst die Aussenminister Polens, Deutschlands und Schwedens bei einem Besuch in Weissrussland die Möglichkeit eines EU-Hilfspakets im Umfang von 4 Milliarden Dollar in Aussicht gestellt, falls das Lukaschenko-Regime die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im Dezember unter fairen und freien Bedingungen durchführen sollte.
Dieses lukrative Angebot hat Lukaschenko indes sträflich verspielt, als er am Wahltag mit brutaler Härte gegen Demonstranten einschlagen liess, die gegen Manipulationen des Regimes protestierten. Diesen gewaltsamen Repressionen folgten in den Wochen darauf breit angelegte polizeiliche Säuberungen. Sieben von 9 oppositionellen Präsidentschaftskandidaten wurden verhaftet, einige sind inzwischen zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden.
Währungsabwertung um 60 Prozent
Lukaschenkos totalitäre Exzesse sind umso unverständlicher, als er die Präsidentschaftswahl kaum zweifelhaft auch ohne Betrügereien und den Einsatz seiner staatlichen Schlägertrupps spielend gewonnen hätte. Vor allem hat er mit seiner kopflosen Gewaltpolitik den eigenen politischen und wirtschaftlichen Spielraum radikal eingeschränkt. Denn natürlich haben die EU-Länder ihr finanzielles Stützungsangebot inzwischen umgehend gestrichen und obendrein eine Reihe von Sanktionen gegen insgesamt 190 höhere Funktionäre des Regimes sowie Familienangehörigen Lukaschenkos verhängt.
Weil das einst für Minsk lukrative Geschäft mit Transitgebühren für russisches Erdöl und Gas schon zuvor durch veränderte Bedingungen empfindlich eingeschränkt war, liess die westliche Kreditsperre die weissrussische Finanzlage zu einer akuten Krise eskalieren. Das Lukaschenko-Regime sah sich im Mai gezwungen, den weissrussischen Rubel um mehr als 60 Prozent abzuwerten. Die Folgen: Alle Importwaren werden radikal teurer, die Bevölkerung verliert das Vertrauen in die Stabilität der wirtschaftlichen Verhältnisse, die Unzufriedenheit mit Lukaschenko breitet sich aus. Schon im April hatte ein Bombenanschlag in der Minsker Metro, bei dem 14 Personen getötet und Hunderte verletzt wurden, für tiefe Verunsicherung gesorgt.
Moskaus Gegenforderungen
Lukaschenko hat sich durch eigene Unvernunft also selber in die Ecke manövriert. In dieser für ihn ungemütlichen Situation verweigert ihm die russische Führung zwar nicht jede finanzielle Hilfe, zieht aber gleichzeitig die Daumenschrauben ihrer Gegenforderungen energischer an. Russland gewährt zusammen mit Kasachstan ein Darlehen für 3 Milliarden Dollar, verteilt über drei Jahre. Im Gegenzug verlangt Moskau substanziell erweiterte Beteiligungen für russische Firmen an strategisch wichtigen Unternehmungen wie dem weissrussischen Pipelinenetz sowie an der weissrussischen Kali-Produktion, die für die weltweite Düngerherstellung von grosser Bedeutung ist.
Lukaschenko hat sich gegen solche russischen Einflussausdehnungen in der weissrussischen Wirtschaft aus nahe liegenden Gründen stets gesträubt. Doch angesichts der finanziellen Notlage seines Regimes ist schwer erkennbar, wie er sich aus diesem Zangengriff wieder hinauswinden kann, ohne sein Land vollends in den Bankrott zu reiten. Auch eine glaubwürdige Lockerung seiner diktatorischen Herrschaft ist ihm heute – anders als vielleicht noch vor zwei oder drei Jahren – kaum mehr zuzutrauen. Seine zunehmend repressiver werdenden Reaktionen auf alle Formen von Protest oder Kritik zeigen, dass er nicht in diese Richtung denkt.
Wie lang ist die Sackgasse?
Der Dauerherrscher in Minsk ist, weil ihm nun wirtschaftlich der Boden unter den Füssen wegzurutschen beginnt, offensichtlich hypernervös geworden. Dennoch muss man sich wohl hüten, das unmittelbar bevorstehende Ende des Lukaschenko-Regimes als unausweichlich vorherzusagen. Der 57-jährige Despot, der in der Vergangenheit auch bauernschlaue Instinkte auszuspielen wusste, hat sich in eine Sackgasse verfahren – aber Sackgassen können lang sein.