Was verbinden Sie spontan mit dem Begriff «Lolita»? Eine frühreife Kindfrau, die Männer um den Verstand bringt ? Die diesjährige Ausgabe des Festivals «Literaricum» in Lech widmete sich drei Tage lang dem Klassiker «Lolita» von Vladimir Nabokov und stellte klar: Die 12-jährige Titelheldin Dolores Haze – alias Lolita – ist keine laszive Verführerin, sondern das unschuldige Opfer eines skrupellosen Pädophilen.
Bereits zum 4. Mal hat Lech im Vorarlberg zum «Literaricum» geladen: ein kleines, feines Festival mit einem überzeugenden Konzept: Im Mittelpunkt steht ein literarischer Klassiker, dessen Wirkmacht bis in die Gegenwart ausstrahlt. Namhafte Autorinnen und Autoren, Literaturexpertinnen und Experten reisen jeweils an, um ihre Perspektive auf das Werk oder das Thema einzubringen.
Nach «Der abenteuerliche Simplicissimus» von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (2021), «Bartleby der Schreiber» von Herman Melville (2022), «Stolz und Vorurteil» von Jane Austen (2023) drehte sich das das Programm dieses Jahr um «Lolita» von Vladimir Nabokov.
Perspektive eines Pädophilen
Nicola Steiner, Leiterin des Literaturhauses Zürich und Intendantin des Literaricums, gestand in ihrer Begrüssungsrede, dass sie sich mit dieser Klassiker-Wahl einen persönlichen Wunsch erfüllt habe: «Als ich ‘Lolita’ vor vielen, vielen Jahren das erste Mal las, war ich komplett verstört.» Sie sei mit einer Vorstellung von dieser Lolita aufgewachsen, die so ganz anders war als der Roman von Nabokov. «Dass hier jemand aus der Ich-Perspektive eines Pädophilen erzählt, hat mich damals in meinen Grundfesten erschüttert. Ein Mensch, der ein Monster ist, missbraucht ein 12-jähriges Mädchen, das ihn verführt. So erzählt wenigstens er es, denn was wir ihm wirklich glauben können, lässt er offen. Und die Sprache des Autors verführt wiederum mich und schafft es, dass mir dieses Scheusal menschlich erscheint. Ein Skandal!»
Projektion eines alternden Mannes
Und genau darin besteht wohl auch die Wurzel des «Lolita»-Missverständnisses. Denn Vladimir Nabokov begeht bereits mit der ungewöhnlichen Erzählperspektive einen Tabubruch: Unser literarisches Gegenüber ist der Täter, der 40-jährige Pädophile Humbert Humbert; er sitzt im Gefängnis und legt ein Bekenntnis ab. Wir erfahren, wie er der Tochter seiner Vermieterin zufällig erstmals im Garten begegnet; die Mutter dann sogar heiratet, um sich damit die Nähe zu Lolita zu sichern. Er lässt uns teilhaben an seiner sexuellen Obsession, stellt das Kind mal als laszive Verführerin dar, dann wieder als weinendes Mädchen oder schmollende Göre; und genauso manipulativ, wie er mit dem unschuldigen Kind umspringt, macht er es auch mit uns Leserinnen und Lesern.
Wer den Text nicht mit der nötigen Konzentration liest, riskiert, diesem Monster auf den Leim zu gehen, weil man übersieht, dass es sich hier um die Projektionen eines hochmütigen, alternden Mannes handelt, der sein Tun vor sich und den anderen zu rechtfertigen sucht.
«Pornographisch und geschmacklos»
Vladimir Nabokov, 1899 in St. Peterburg geboren und seit der russischen Revolution im Exil, hatte schon zwölf Romane veröffentlicht, als er Mitte der fünfziger Jahre «Lolita» publizieren wollte: In den USA, seiner damaligen Heimat, fand er keinen Verlag, der das Risiko einer Publikation eingehen wollte: Zu anstössig schien die Thematik; zu riskant die Folgen eines Skandals.
Mehr Glück hatte Nabokov in Frankreich: Dort erschien «Lolita» 1955 zuerst bei Olympia Press, einem Verlag für englischsprachige Erotika. Diese gekürzte «Lolita»-Fassung geriet – durch Zufall – in die Hände des jungen amerikanischen Verlegers Walter Minton; er war derart fasziniert von der Geschichte, dass er die Skrupel seiner Landsleute ignorierte und «Lolita» 1958 herausgab. Der Skandal liess dann auch nicht auf sich warten: Kritiker bezeichneten das Buch als pornographisch, dreckig, pervers und geschmacklos.
«Der Skandal war notwendig»
Aber wie so oft heizte die öffentliche Empörung die Verkaufszahlen erst recht an: Kurz nach Erscheinen führte «Lolita» bereits die Bestellerlisten an; im November 1958 wurde der Roman dann von Pasternaks «Doktor Schiwago» vom ersten auf den zweiten Platz verdrängt.
«Der Skandal war notwendig», meinte damals der deutsche Übersetzer Dieter E. Zimmer, «ohne ihn wäre der russische Exilschriftsteller Vladimir Nabokov – wie so viele andere - trotz seiner literarischen Exzellenz doch schnell vergessen gegangen.»
Diese Meinung teilt die deutsche Autorin Nora Bossong in ihrer hervorragenden Eröffnungsrede am Literaricum: «Aber dieser Skandal konnte nur in einem einzigen historischen Moment stattfinden: als im ganzen Westen das Sexualtabu fiel. Solange es noch in voller Schärfe bestand (zehn Jahre früher, 1947) wäre ein Buch wie ‘Lolita’ nicht gedruckt worden. Als es nicht mehr bestand (zehn Jahre später, 1967), wäre jeder Skandal ausgeblieben.»
Toxische Beziehungen
Während den drei Tagen am Literaricum näherte man sich aus ganz verschiedenen Richtungen dem Phänomen Lolita; diskutiert wurde es zum Beispiel auch am Thema von ungesunden Beziehungen. So stellte die ungarische Schrifstellerin Terézia Mora ihren Roman «Muna oder die Hälfte des Lebens» vor, in dem eine Frau bei einem Mann ausharrt, obwohl er sie psychisch kaputt macht; oder Sophia Fritz trat auf, weil sie ein Sachbuch über «toxische Weiblichkeit» geschrieben hatte.
Diese Vielfalt an aktuellen Stimmen, die man in Verbindung bringen kann mit dem Klassiker-Schwerpunkt, macht genau die Qualität des Literaricums aus. Mal ist der Bezug zur Festival-Vorlage lockerer, mal enger.
Die Übersetzung, «ein Wagnis»
Ein Highlight im Programm war sicher der Auftritt von Nabokov-Kenner und Schriftsteller Aris Fioretos, der – neben vielen anderen Nabokov-Werken – auch »Lolita» ins Schwedische übersetzt hatte. Eine Herausforderung sei dieser Roman gewesen, ja auch «ein Wagnis»; nicht nur, weil im Mittelpunkt ein unzuverlässiger Erzähler stehe, sondern auch, weil dieser Roman auf so vielen Ebenen spiele, in Bildern spreche und versteckte Bezüge zu anderen literarischen Werken herstelle. Hier gelte es wachsam zu bleiben, um Vladimir Nabokov wirklich gerecht zu werden.
Auf die Frage aus dem Publikum, welchen persönlichen Bezug der russische Autor denn zur Thematik von «Lolita» habe, räumte der Übersetzer ein, dass in dessen Werk mehrfach Beziehungen zwischen älteren Herren und jüngeren Frauen vorkommen; aber der Verdacht auf einen allfälligen persönlichen Hang zu Pädophilie sei völlig unbegründet. Hingegen glaubt Fioretos, dass man im Roman «Lolita», der ja im Laufe der Geschichte auch zum Roadmovie durch die USA wird, auch eine versteckte Liebeserklärung Nabokovs an die USA und an die amerikanische Sprache erkennen könne.
Die beiden «Lolita»-Verfilmungen
Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen, emeritierte Anglistik-Professorin aus Zürich und grosse Filmkennerin, ging in Lech auf die beiden einzigen Kino-Verfilmungen von «Lolita» ein: jene von Stanley Kubrick aus dem Jahre 1962 und jene von Adrian Lyne aus dem Jahr 1997.
Bronfen machte klar, wie anspruchsvoll es für Regisseure war, dieses vielschichtige literarische Werk auf die Leinwand zu bannen. Anhand von einzelnen Szenen-Ausschnitten erklärte sie, warum Kubrick dem Stoff einigermassen gerecht geworden ist, während Lynes «Lolita»-Version zum simplen Soft-Porno geriet und völlig am Aussagewunsch von Nabokov vorbei zielte.
Hatte das Missverständnis von «Lolita» bereits durch die falsche Rezeption bei Erscheinen begonnen, wurde es durch die Verfilmungen noch verstärkt: Das Kino-Plakat von Kubricks «Lolita» – mit Sue Lyon in der Titelrolle – gaben Nabokovs Heldin ein prägendes Gesicht. Und zementierten endgültig das Image der blonden, aufreizenden Kindfrau mit Schmollmund.
Vladimir Nabokov widersprach
Vladimir Nabokov selber wurde nicht müde, diese Fehlinterpretation seiner weiblichen Protagonistin in Interviews zu korrigieren; noch zwei Jahre vor seinem Tod stellt er in einem Gespräch mit dem französischen Literaturpabst Bernard Pivot klar: «Lolita ist kein perverses junges Mädchen, sie ist ein armes Kind, das ausschweifend ist und dessen Sinne unter den Liebkosungen des schmutzigen Humbert Humbert nie erwachen.»
Positive Bilanz
Die vierte Ausgabe des Literaricums war ein voller Erfolg; auch Nicola Steiner, die das Festival kuratiert hatte, zeigte sich am Schluss des Festivals rundum zufrieden. Sie lobte vor allem die Neugier und Offenheit des Publikums: «Pädophilie ist nach wie vor ein Tabuthema in unserer Gesellschaft und deshalb auch schwierig zu thematisieren.» In Zeiten der Cancel-Culture gebe es auch oft die Haltung, dass man sich grundsätzlich nicht mehr mit so einem umstrittenen Werk eines alten weissen Mannes beschäftigen möchte. «Lolita bringt zweifellos ein gewisses Stigma mit sich», sagt Nicola Steiner, umso schöner sei es in Lech gewesen, dass alle Teilnehmenden interessiert daran waren, sich ernsthaft und intellektuell mit diesem Klassiker auseinanderzusetzen, «und eben nicht beginnen, diese moralisierenden Aspekte zu betonen». Für Nicola Steiner ist «Lolita» auch ein hervorragendes Buch über Machtverhältnisse: «Gerade vor dem Hintergrund der #MeToo-Bewegung zeigt dieser Roman eben auch, wie Macht verwendet wird – und zwar bis heute.»
Diese 4. Auflage des Literaricums hat in bester Form bestätigt, was echte literarische Klassiker ausmacht: Sie haben in jeder Zeit einen Bezug zur Gegenwart, weil sie etwas Universelles ansprechen und abbilden. Und damit das genuin Menschliche in uns treffen.
Die deutsche Schriftstellerin Nora Bossong hielt am LITERARICUM die Eröffnungsrede zu «Lolita»
Luzia Stettler: Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Lektüre von «Lolita» ?
Nora Bossong: Das war vor rund 20 Jahren; und ich weiss noch, dass mich die Sprache und die Präzision der Beschreibungen unheimlich beeindruckt haben.
Sahen Sie damals Lolita auch eher als Täterin statt als Opfer ?
Nein: für mich war Lolita von Anfang an eine tragische Figur; ich erkannte, dass sie das Objekt seiner Begierde ist und keinen eigenen Handlungsrahmen besitzt; deshalb erlag ich eigentlich auch nie der Versuchung, sie als aufreizende Verführerin zu sehen, die das Spiel in der Hand hat. Ich erinnere mich aber, dass der Klappentext meiner damaligen «Lolita»-Ausgabe bereits dieses Missverständnis schürte: da standen Zeilen wie: «Ein 40 Jähriger gerät in die Fänge einer Nymphe». Eine totale Verdrehung von Täter und Opfer. Damals war kurz vorher gerade der «Lolita»-Film von Adrian Lyne mit Jeremy Irons in der Hauptrolle herausgekommen; vielleicht wählte der Verlag diese Formulierung naiverweise aus Verkaufsgründen, weil die Zuschreibung zum Film passte.
Und welchen Eindruck machte der pädophile Humbert Humbert auf Sie ?
Humbert Humbert war für mich schon damals ein Monster; wirkte aber ambivalenter als heute; heute lese ich ihn eindeutig als hochmütig und böse.
Wir leben im Zeitalter der «Me Too»-Bewegung: glauben Sie, der Roman «Lolita» dient deren Anliegen oder spielt er eher dagegen ?
Ich glaube, die Me Too-Bewegung ist nicht dazu geeignet, mit literarischen Werken zu arbeiten.
Warum nicht? Würde befürchtet, der Täter käme in der allgemeinen Wahrnehmung zu gut weg ?
Nein, nicht weil das Verbrechen von Humbert Humbert womöglich verharmlost oder entschuldigt werden könnte. Darum geht es nicht. Wir dürfen nicht vergessen: «Me Too» ist eine Bewegung der tatsächlichen Fälle, die sich in den Sozialen Medien aktivistischausdrückt; «Lolita», der Roman, hingegen war nie ein Tatsachenbericht; darauf hat Nabokov auch immer Wert gelegt.
Es ist ja schon eine eigenartige Entwicklung: Ein Kind – eben Lolita - wird zum Symbol eines Frauentyps, obwohl sie im Roman das völlige Gegenteil verkörpert: eben nicht laszive Verführerin, sondern missbrauchtes Opfer. Das ist je eigentlich eine Perversion ?
Man darf nicht vergessen: Es gibt dieses Motiv der Kindfrau ja schon lange in der Literatur; Nabokov bedient sich da eines Topos, den nicht erst er entdeckt hat.
In der Antike waren es die Knaben – oder im Mittelalter Peter Abelardus mit seiner jungen Nichte Héloise. Auch Wedekinds «Frühlingserwachen» Ende des 19. Jahrhunderts greift diese Thematik auf.
Aber eigentlich ist eine klassische Kindfrau älter als Lolita; das sind so die Mädchen ab 13, 14 Jahren; sie haben schon etwas Brüste und merken, was im Körper passiert. Lolita hingegen ist jünger, so um die 12, präadoleszent, also wirklich noch ein Kind. Und das wird mit diesem Kindfrau-Mythos nicht gemeint, ohne den jetzt entdramatisieren zu wollen.
Humbert Humbert ist ein unzuverlässiger Erzähler; mal macht er sich lustig über sein Opfer, dann heuchelt er wieder eine gewisse Empathie. Nehmen Sie ihm seine Reue ab ?
Es gibt ein, zwei Szenen, wo man spürt, dass er plötzlich schlaglichtartig merkt, wie es Lolita in dieser ganzen Zeit geht; das erschreckt ihn; aber dass er es je bereut: nein! Er hat eine absolut toxische Passion, die es weniger dramatisch auch ohne Pädophilie geben kann; dieses erotisch Obszessive steht bei ihm im Mittelpunkt, es ist eine Sucht, und alles andere ist irrelevant.
Auf der allerersten Seite lässt Nabokov den Erzähler Lolitas Namen buchstabieren: «Lo-li-ta. Die Zungenspitze unternimmt eine Reise von drei Schritten den Gaumen herunter, um beim dritten an die Zähne zu stossen. Lo.Li.Ta.»
Beim Lesen machen wir genau das, was er uns vorgibt – diese Übung mit der Zunge –, und damit sind wir in unserem Mund schon zu Humbert Humbert geworden. Das ist wahnsinnig klug vom Autor, denn so rutschen wir unbewusst bereits in die Täterperspektive rein, wie wir das sonst intellektuell nie machen würden; wir würden uns sofort davon distanzieren. Das ist nur einer der vielen literarischen Kunstgriffe, die Vladimir Nabokov in diesem Meisterwerk vollbringt.