Er heisst Sam und liebt Action-Filme. Immerhin hat er eine Stelle. Er arbeitet „wie eine Maschine. Das ist kein Leben“ sagt er, „das führt nirgendwo hin. All diese Leute, die nur Nummern sind“.
Wie alle seine Kollegen hat er noch nie ein Buch gelesen. Doch eines Tages steht er in einer Buchhandlung. Ganz zufällig. Da liegt ein Buch, dessen Titel ihn anspricht. Er kauft es. Jetzt ändert sich sein Leben.
„Bonjour“, schreibt er kurz darauf der Autorin des Buches. „Sie kennen mich nicht. Ich habe kurze Haare und ein banales Gesicht. Würden Sie mich treffen, Sie würden mich nicht bemerken. Und dennoch: Vous m’avez fait!“ Etwa: Sie haben mich geknackt.
Die Autorin, die diesen Brief erhält, ist eine Bestseller-Autorin. „Fragen Sie mich nicht, weshalb ich das Buch gekauft habe“, schreibt er ihr. Er liest die ganze Nacht, er kann nicht mehr aufhören.
Die Jugend, die keine Bücher liest und keine Perspektive sieht...
Der Brief ist der Anfang eines faszinierenden Dialogs zwischen einem jungen Hoffnungslosen und der Autorin. Sie geht auf ihn ein, und so gehen die Briefe hin und her. Die Autorin ist nicht irgendwer: Amélie Nothomb stürmt immer wieder die französischen Bestseller-Listen. Ihre Bücher erreichen Millionenauflagen. Der Zürcher Diogenes-Verlag hat viele ihrer Werke auf Deutsch veröffentlicht.
„Meine Mutter glaubte, ich sei krank, als ich zu lesen begann“, schreibt Sam. „Sie begann fast zu weinen“.
Annick Stevensons Romanheld fällt aus dem heutigen Rahmen. Sam passt nicht mehr ins Klischee von der uninteressierten heutigen Jugend, die keine Bücher liest, sich nur noch im Facebook und auf Youtube tummelt und per SMS miteinander verkehrt. Eine Jugend auch, die keine Zukunft sieht, sich langweilt und vor sich hinlebt.
Die Geschichte beruht – zumindest teilweise – auf Fakten. Die Französin Annick Stevenson hat die Belgierin Amélie Nothomb mehrmals in Paris besucht. Auf dem Bürotisch von Nothomb türmen sich Hunderte von Briefen. Sie hat sich vorgenommen, täglich mindestens acht zu beantworten. Einer davon stammte von einem gewissen Sam.
Sam's wunderbare Wandlung
Annick Stevenson, Journalistin, Autorin und Übersetzerin, hat daraus ein eindrückliches Bild einer gewissen Vorstadt-Jugend gezeichnet. Mit überraschenden Details wird zunächst die Hoffnungslosigkeit vieler in Frankreich lebenden jungen Menschen präsentiert. Köstlich ist die Sprache der heutigen „post-ado“-Rebellen. So spricht die französische Jugend – nicht so, wie man es in der Schule lernt. Das Buch wäre eine Schatztruhe für Französischlehrer.
Sam erlebt eine wunderbare Wandlung - dank der Literatur. Da stösst einer zufällig auf ein Buch - und sein Leben ändert sich. Er, der früher nicht einmal Astérix las, beginnt wie ein Besessener zu lesen. Er kauft jetzt alle Bücher von Amélie Nothomb, schreibt ihr immer wieder. „Die Literatur ist eine rettende Kraft“, sagt er. „Elle a un pouvoir salvateur“.
Einfühlsam beschreibt Stevenson die Veränderung im Leben des jungen Sam. Immer mehr hat er den Eindruck, selbst eine Figur in den Romanen zu sein. Er kommt zum Schluss, dass er „in diesem nutzlosen Leben vielleicht doch noch etwas machen sollte“. Zwar weiss er noch immer nicht, wer er ist, doch er weiss es immer mehr.
Seine Kollegen treffen sich am Abend im Ausgang. Er geht nach Hause und liest und liest. Jetzt stellt er gar einen „Amélie Nothomb-Blog“ ins Netz. „Zum ersten Mal habe ich in meinem Leben etwas geschaffen, das vor mir noch nicht existierte“, freut er sich. Und Amélie Nothomb beglückwünscht ihn gar zu seiner Idee. Er schreibt: „Wenn ich diesen Blog über Amélie schaffe, so ist es, weil ich ihr gegenüber eine Schuld abzutragen habe. Sie hat mir das schönste Geschenk auf Erden gemacht: Sie hat mich die Literatur entdecken lassen.“
Vor allem hat sie es geschafft, dass er sein Leben entdeckt hat. Er hat genug, bei seinen Eltern zu leben und sucht sich eine Wohnung. Dort kann er ungestörter lesen. „Ich glaube, ich beginne ein Mann zu werden, aber ein anderer, als die andern aus mir machen wollten“.
Ein neuer Mann ist geboren
Er werde jetzt nachholen, was er in der Schule verpasst habe. Schon beginnt er Balzac und Maupassant zu lesen. Jetzt will er auch eine interessantere Arbeit suchen. Und natürlich möchte er einmal Amélie sehen.
Sie übermittelt ihm die Daten und Örtlichkeiten, wo und wann sie auftritt und Bücher signiert. Sam fährt nach Lyon in die grosse Stadt. Plakate weisen darauf hin, dass Amélie in einer grossen Buchhandlung auftritt. Er ist schon drei Stunden vorher dort. Von weitem sieht er sie kommen, in einem langen schwarzen Kleid. Der Mut verlässt ihn, und er fährt nach Hause.
Beim zweiten Mal klappt es. Die Autorin signiert in einer Fnac-Buchhandlung in einer kleinen Stadt. Vor Beginn des Anlasses wird Sam zur Autorin gerufen. Eine wunderbare Begegnung. Er fühlt Dynamik in sich, wie noch nie. Er ist begeistert von ihrer Ruhe und ihrer Ausstrahlung. Ein neuer Mann ist geboren.
Das Buch endet mit einem nicht zwingenden Happy-End. An der Veranstaltung in der Buchhandlung nimmt auch eine wunderschöne, schüchterne Japanerin teil. Sie ist gekommen, weil Amélie Nothomb in Japan geboren wurde und lange Zeit dort gelebt hat. Sam verliebt sich in sie. Auch das hat die Literatur möglich gemacht.
Annick Stevenson, Génération Nothomb, Edition Luce Wilquin, www.wilquin.com
Annick Stevenson lebt in Frankreich in der Nähe von Genf. Lange Zeit arbeitete sie für das UNO-Hochkommissariat für das Flüchtlingswesen (UNHCR) und war in vielen Kriegsgebieten im Einsatz. Von ihr erschienen auch: „Blanche Meyer et Jean Giono, l’amour caché de Jean Giono“ (Editions Actes Sud, 2007) und „Sergio Vieira de Mello, un homme exceptionnel, assassiné dans un attentat à Bagdad“ (Editions du Tricorne, 2004)