Vor hundert Jahren, am 23. Mai 1915, kam der Erste Weltkrieg mit der Kriegserklärung des Königreichs Italien an die Habsburger Monarchie auch in den Sextener Dolomiten an. Ein zweieinhalbjähriger Stellungskrieg auf 2000 bis 2800 Höhenmeter unter widrigsten Bedingungen für die Soldaten begann. Die Terraingewinne betrugen oft nur wenige Meter. Auf den Kriegsverlauf hatten die Gebirgskämpfe an der Südwestfront Österreich-Ungarns kaum Einfluss.
Wie ein Drachenkamm ragen die Kalkspitzen der Sextener Dolomiten in den Sommerhimmel. Die Neuner-, Elfer oder Zwölferspitze sind die “Sonnenuhr” der Einwohner des Bergdorfes Sexten. Am Sonnenstand über der schroffen Gebirgskulisse können sie die jeweilige Uhrzeit ablesen. Erst vor wenigen Jahren wurden die Südtiroler Dolomiten zum Unesco-Naturwelterbe ernannt. Doch Touristen aus aller Welt zieht die spektakuläre Gebirgslandschaft schon seit dem Ende des 19.Jahrhunderts an. Vielen Wanderern, die auf den steinigen Berg- und Klettersteigen zwischen 2000 und 2800 Höhenmetern an den vielen in den Fels gehauenen Höhlen vorbeikommen, ist nicht bewusst, dass dies Unterstände und sogar Behausungen waren, in denen Soldaten aus der österreichisch-ungarischen Monarchie und aus Italien unter ungeheuren Entbehrungen 1915 bis 1918 die Stellung halten mussten.
Hunger und Infektionskrankheiten
Die Gebirgstruppen beider Seiten waren Opfer einer schon damals veralteten Strategie, die Grenze auf den Bergen und nicht im Tal zu verteidigen. Die Terraingewinne auf beiden Seiten waren minimal, manchmal nur wenige Meter. Durch die Explosion eines Waffendepots ging sogar eine ganze Bergkuppe in die Luft. Die meisten Soldaten starben nicht durch feindliche Angriffe, sondern durch Lawinen, Steinschlag, Hunger und Infektionskrankheiten wie Grippe, erzählt die junge Historikerin Sigrid Wistaler auf einer von der Grünen Bildungswerkstatt Tirol organisierten Wanderung durchs erst vor kurzem aufgebaute Freilichtmuseum des Ersten Weltkrieges unterhalb der Rotwand. Und sie zitiert aus dem Tagebuch ihres Grossvaters, eines Südtiroler Bergbauern, der seinen Dienst an diesem Teilabschnitt der Südwestfront tun musste. “Tagelang nur Schnee geschaufelt. Es ist langweilig”, schrieb er im Frühjahr 1915, kurz nachdem der ehemalige Verbündete Italien Österreich-Ungarn den Krieg erklärt hatte. Doch die Langeweile sollte ihm bald vergehen.
Zunächst ging es den Soldaten im Hochgebirge noch relativ gut. Sie wurden für vier bis sechs Wochen in die Höhenstellungen geschickt, hatten wenig Feindberührung, genügend Brennmaterial und erhielten eine tägliche Essensration von 4000 Kalorien. Jedem Soldaten stand ein halbes Kilo Zucker, je ein halbes Kilo Speck und Käse, Suppen- und zwei Fleischkonserven, Tee und Kaffee, sowie ein Achtel Kilo Reis und ein halber Liter Spiritus zu. Mit Fortschreiten des Krieges verschärfte sich die Lage. Die Ressourcen wurden knapp, der Nachschub schwierig. Die Männer erhielten nur noch 2000 Kalorien, viel zu wenig unter den harten Gebirgsbedingungen. Sie konnten nicht mehr regelmässig ausgetauscht werden und die Winterausrüstung war mangelhaft. Genügend Wasser für die rudimentärste Körperhygiene fehlte in dem Kalkgebirge. “Die Läuse sind fast schlimmer als die Italiener”, klagte ein Soldat in seinem Tagebuch. Hunger und Infektionskrankheiten forderten ihr Tribut.
Schlagkräftige Italiener
Die italienischen Truppen waren wesentlich besser ausgerüstet. Italien hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg damit begonnen, die militärische Infrastruktur an der Gebirgsgrenze zu Österreich auszubauen, obwohl es damals noch mit Wien und Berlin im sogenannten Dreibund verbündet war. Auch ihre Elitetruppen, die “Alpini”, waren gut ausgebildet und schlagkräftig. Entsprechende Gebirgskorps besass die Donaumonarchie nicht. Viele der Soldaten hatten überhaupt keine Gebirgserfahrung. Sie kamen teils aus dem Deutschen Reich, teils aus dem tschechischen Kronland oder Galizien (heutige Ukraine). Auf der italienischen Seite stellten sich Versorgungsprobleme erst ab Dezember 1916 ein.
Ganz von der Aussenwelt abgeschnitten waren die österreichischen Soldaten nicht. Im Laufe der Kriegsjahre wurden Materialseilbahnen gebaut und Telefonleitungen von den Tälern bis hinauf in die Stellungen gelegt. Noch heute kann man an der einen oder anderen Tanne grosse Haken entdecken, über die die Leitungen zu den Kommandostellen im Tal gelegt wurden. Unterhalb der Sentinellascharte, die nur vier Männern ständig bewachen mussten, wurden Lauf- und Schützengräben aus Stein aufgeschichtet. Noch heute kann man durch dieses Steinlabyrinth gehen, in das der Feind von den umliegenden Gipfeln aus keine Einsicht hatte. 1916 errichteten die Truppen dann Baracken als Unterkünfte, denn die Felskavernen waren feucht und eiskalt im Winter. Neben Geschützen schleppten hauptsächlich russische Kriegsgefangene sogar eine schwere Kanone die steilen Schneehänge hinauf.
"Die Tschechen, diese Saubande"
Im November 1917 zogen die Truppen aus den Sextener Dolomiten ab. Vorangegangen war die für Italien verlustreiche Schlacht von Karfreit, bei der mit Hilfe deutscher Truppen über zweihunderttausend italienische Kriegsgefangene am Isonzo gemacht wurden. Aber auch erste Zersetzungserscheinungen in der Doppelmonarchie machten sich spürbar. “Die Tschechen, diese Saubande, hauen einfach ab und lassen uns allein zurück,” regte sich ein einheimischer Soldat in seinem Tagebuch auf. Den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie 1918 bekamen auch die Talschaften in den Sextener Dolomiten zu spüren. Die Dörfer waren 1915 teilweise evakuiert worden. Heimkehrende Soldaten plünderten die Ortschaften. Nach dem Friedensvertrag von Saint-Germain am 10. September 1919 fand sich ganz Südtirol unter italienischer Herrschaft wieder. Ein neues Kapitel hatte begonnen.