Jahrelang gefiel es dem Westen, Myanmars Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi unkritisch als quasi-Heilige und die einzige Hoffnung zu rühmen, das Land aus der Militärdiktatur und internationalen Isolation zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu führen. Jetzt wundern sich dieselben Bewunderer über das Versagen der „Lady“, wie die fragil wirkende, aber als äusserst zäh bekannte Bhuddistin und Friedensnobelpreisträgerin gerne genannt wird.
Seit Jahren führen Myanmars Militärs Krieg gegen die muslimische Minderheit im Land. Die 1,1 Millionen Rohingyas leben in Apartheid-ähnlichen Verhältnissen im Nordwesten Myanmars im Bundesstaat Rakhine. Die Regierung verweigert ihnen die Staatsbürgerschaft und alle damit verbundenen Rechte. Sie leben zwar schon seit Jahrhunderten in Burma. Doch die buddhistische Mehrheit des Landes betrachtet sie als illegale Immigranten aus Bangladesh.
Im Oktober vergangenen Jahres wehrten sich mehrere Hundert Rohingyas gegen die permanente Verfolgung und Diskriminierung und griffen eine Militäreinheit an, wobei neun Soldaten getötet wurden. Seither führt Myanmars Armee eine mörderische Offensive gegen die Andersgläubigen und entfesselte „eine kalkulierte Politik des Terrors“, so ein Bericht der Vereinten Nationen. Nach Angaben hoher UN-Mitarbeiter, die zur Beobachtung der Situation entsandt wurden, starben seit November wohl über 1000 Rohingyas in den Angriffen. „Die Rede ist von Hunderten Toter“, berichtete einer der UN-Abgesandten, der seinen Namen nicht genannt haben will. „Die Zahl könnte aber weit höher liegen, vielleicht in den Tausenden.“ Myanmars Regierungssprecher Zaw Htay widersprach und erwähnte einen Bericht der Militärkommandeure, demzufolge weniger als 100 Menschen in einer Operation gegen Aufständische getötet worden seien.
Die Spitze des Eisbergs
70‘000 Rohingyas flohen in den letzten Monaten ins benachbarte Bangladesh, die meisten davon Frauen und Kinder. „Jugendliche und Männer zwischen 17 und 45 werden als potentielle Gefahr für die Armee angesehen und darum besonders verfolgt“, beschrieb der Bericht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (UNHCR) die Situation. Viele Männer in diesem Alter seien zusammengetrieben und mit gefesselten Händen abgeführt worden. Zahlreiche Massenmorde in den letzten Monaten und Massenvergewaltigungen, die möglicherweise als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzuordnen seien, listet der Report auf. Sogar Babys seien abgeschlachtet worden. Der Bericht basiert auf Interviews mit 220 Flüchtlingen, von denen jeder von ermordeten und verschwundenen Bekannten wusste, und erwähnt den Beschuss aus Helikoptern und den Einsatz von Granaten gegen unbewaffnete Zivilisten, gezielte Tötung von Lehrern und Geistlichen, Leichen mit durchschnittenen Kehlen, Menschen, die in ihre Häuser eingeschlossen und dann in Brand gesetzt wurden. Auf Satellitenbildern sind verwüstete Dörfer zu erkennen.
Der Bericht beschreibe nur „die Spitze des Eisbergs“, so ein UN-Beauftragter gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Was genau sich derzeit in Myanmar zuträgt, sei nur schwer zu prüfen, weil das Militär den Bundesstaat Rakhine abgeriegelt hat und niemanden in die Region lässt.
Die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen über die Menschenrechtslage in Myanmar, Yanghee Lee, befürchtet gar, das endgültige Ziel dieser institutionalisierten Verfolgung und erschreckenden Gewalt könnte die vollständige Vertreibung der Rohingyas sein. Es gäbe Anzeichen, dass „die Regierung versuchen könnte, die gesamte Rohingya-Bevölkerung aus dem Land zu vertreiben“, berichtete Lee im letzten Monat dem UN-Sicherheitsrat und forderte die Einsetzung einer Untersuchungskommission. Doch die Vereinigten Staaten und die Europäische Union sahen keinen Handlungsbedarf. Ein derartiges Vorgehen könnte die fragile Demokratie gefährden, fürchteten sie.
„Wie Margaret Thatcher“
Und auch die „Lady“ schweigt. Zunächst bestritt die Regierung Vergewaltigungen, Massenmorde und die Zerstörung ganzer Dörfer. Doch im Februar gab sie eine Erklärung ab, sie werde die in dem Bericht vorgetragenen Anschuldigungen prüfen. Diplomaten in Myanmar räumen zwar ein, dass Suu Kyi keine Kontrolle über die Armee habe, kritisierten jedoch ihr anhaltendes Schweigen. Das unterminiere ihren Ruf als Verteidigerin der Demokratie, den sie sich in den Jahren der Militärherrschaft erworben habe, und gefährde die internationale Unterstützung.
15 Jahre lang lebte die heute 71jährige unter Hausarrest in ihrer Villa am Inyasee an Yangons University Avenue Road und hielt auf wackeligen Stühlen grosse Reden über Menschenrechte und Verletzungen der Menschenrechte. „Sie elektrisierte. Sie war witzig”, erinnert sich David Mathieson, der jahrelang für Human Rights Watch die Menschrechtssituation in Myanmar beobachtete. „Es ist schade, dass sie das heute nicht mehr tut.“
Doch heute lebt sie fünf Autostunden nördlich der alten Hauptstadt Yangon in der unter der Regie der Militärs von Zwangsarbeitern aller Altersgruppen in der heissen, von Bergen und dichten Wäldern umgebenen Ebene im Landesinnern errichteten Hauptstadt Nayppyidaw (Wohnsitz der Könige) mit ihren zwanzig-spurigen Autobahnen, monumentalen Götterbildern und grandiosen Hotels. Ihr Haus teilt sie mit ihrem Hund und einer kleinen Entourage von Hausmädchen und frühstückt mit ihrem engsten Berater, Kyaw Tint Swe, der einst als Botschafter in Israel, Malaysia, Deutschland und Japan jahrzehntelang die Taten oder Untaten der Militärjunta verteidigte, und meidet die Presse.
Dutzende Diplomaten, Analytiker, aktuelle und ehemalige Berater zeigten sich in Interviews frustriert. „Aung San Suu Kyis fragwürdiger Führungstil, ihr Mangel an Vision und ihr Schweigen angesichts der Verfolgung von Minoritäten liessen Zweifel an ihrem öffentlichen Bild aufkommen“, schrieb der Guardian. Sie sei keine Liberale, wie viele jener Leute, die sich einst für ihre Freilassung einsetzten. „Sie ist eher wie Margaret Thatcher.“
„Wir sind frustriert“
Schon im Januar kritisierten 23 Aktivisten, darunter der britische Unternehmer Sir Richard Branson oder Italiens vormaliger Ministerpräsident Romano Prodi und über ein Dutzend Nobelpreisträger, in einem offenen Brief an den UN-Sicherheitsrat Aung San Suu Kyi und warnten vor einer Tragödie, die in „ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ enden könne. „Einige internationale Experten haben vor einem möglichen Genozid gewarnt. Die Situation hat alle Merkmale nicht lange zurückliegender Tragödien – Ruanda, Darfur, Bosnien, Kosovo“, hiess es in dem unter anderem von Erzbischof Desmond Tutu, der pakistanischen Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai, dem ehemaligen Präsidenten Osttimors, José Ramos Horta, und der jemenitischen Journalistin Tawakkol Karman unterzeichneten Schreiben. „Wenn wir nicht handeln, werden Menschen verhungern, wenn sie nicht von Kugeln getötet werden ... Wir sind frustriert, dass Daw Aung San Suu Kyi trotz wiederholter Appelle keine Schritte unternommen hat, den Rohingyas volle Staatsbürgerschaft gleiche Rechte zuzusichern. Daw Suu Kyi ist die Regierungschefin und somit verantwortlich zu führen, mit Mut, Menschlichkeit und Mitgefühl.“