Die Schweizer Strafjustiz hat in den vergangenen Monaten einiges zu hören bekommen. Lanciert hatte die Kampagne gegen die „Kuscheljustiz“ jenes Blatt, das seinen Erfolg zu einem grossen Teil den Geschichten über grausame Verbrechen verdankt. Dann stimmte auch die Politik in das Lied von den viel zu weichen Richtern ein. Ein Parlamentarier verstieg sich gar zur Behauptung, die Gerichte würden mit ihrer Milde die Verfassung verletzen.
Auch SVP-Richter sind Teil der „Kuscheljustiz
Kein Wort verloren die Kritiker darüber, dass bei uns nicht irgendwelche weltfremden Gutmenschen die Strafen aussprechen, sondern von den politischen Parteien vorgeschlagene Persönlichkeiten. In der Schweiz sind die Gerichte dem Parteiproporz entsprechend zusammengesetzt. Zur „Kuscheljustiz“ zählen so auch Richterinnen und Richter aus der SVP, jener Partei, die bei der Kritik an der Justiz am weitesten geht.
Wieweit stimmt der Vorwurf, unsere Richter würden unverständlich milde urteilen? Würde der „gewöhnliche Bürger“ tatsächlich ganz anders entscheiden? Dieser Frage nachgegangen sind André Kuhn, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Universität Lausanne, und seine Kollegin Joelle Vuille. Sie haben eine repräsentative Stichprobe von Strafrichtern und eine ebensolche Auswahl aus der Bevölkerung mit vier fiktiven Fällen konfrontiert. Gefragt wurden im Jahr 2000 290 Richterinnen und Richter, was für Strafen sie ausgesprochen hätten. Die gleiche Frage stellten die Kriminologen auch 606 in der Schweiz wohnhaften Personen. 2007 wurde die Befragung mit weiteren 143 Richtern und 959 in der Schweiz lebenden Personen wiederholt.
Viel Milde beim „Volksgericht“ für den Bankier
Zu urteilen hatten die Richter und die Kontrollgruppe aus der Bevölkerung über vier Täter: - einen rückfälligen Autoraser, der auf der Autobahn mit 232 km/h unterwegs war - einen mehrfach rückfälligen Einbrecher - einen Vergewaltiger - einen Bankier, der eine Million unterschlagen hat.
Die Ergebnisse der Befragung hat André Kuhn kürzlich an einer Fachtagung in Zürich vorgestellt. Auf den ersten Blick scheint es so, als ob das Resultat den Justizkritikern recht geben würde. Die befragte Gruppe aus der Bevölkerung würde durchschnittlich höhere Strafen aussprechen als die Richterinnen und Richter. Mit einer erstaunlichen Ausnahme: Der Bankier würde vom „Volksgericht“ nicht härter, sondern wesentlich milder bestraft. Besonders deutlich zeigt das die zweite Befragung. 2007 lag der Durchschnitt der Strafen für den Bankier mit 13,4 Monaten weit unter dem Strafmass der Richter mit durchschnittlich 24,9 Monaten.
Anders als im Bankier-Fall entschieden sich die Befragten beim Raser, beim Einbrecher wie beim Vergewaltiger für schärfere Strafen. Stimmt es also doch, dass die Richter in den Augen der Bevölkerung zu wenig hart durchgreifen? Nein, sagt André Kuhn. Denn zustande gekommen ist dieses Resultat nur deshalb, weil eine kleine Minderheit massiv höhere Strafen will als der Rest. Einzelne extrem lange Strafen drückten den Durchschnitt der Strafen derart in die Höhe, dass ein schiefes Bild entstand.
Ausnahmefall Vergewaltigung
Viel aussagekräftiger ist deshalb der Medianwert oder deutsch gesagt der Mittelwert der Strafen. Dieser weicht erheblich ab vom Durchschnittswert. Mehrheitlich wollen die Befragten nämlich mildere und nicht schärfere Strafen: - Beim Raser haben sich 2000 und 2007 zwei Drittel der befragten Bevölkerung für eine mildere Strafe ausgesprochen als die Richter. - Beim Einbrecher war jeweils eine knappe Mehrheit milder gesinnt als die Vertreter der Justiz. - Ganz deutlich fiel das Resultat beim Banker aus. Nicht weniger als 79 bzw. 85 Prozent würden eine leichtere Strafe verhängen als die Richter. - Etwas anders sieht es beim Vergewaltiger aus. 2000 war die Hälfte der Befragten noch für eine mildere Sanktion. 2007 dagegen wollten 58,8 Prozent eine härtere Strafe.
Offensichtlich macht es einen Unterschied, ob man die Bevölkerung ganz generell fragt, ob sie für härtere Strafen sei, Oder ob man die Frage an Hand konkreter Fälle stellt und der Meinung der Richter gegenüberstellt, wie das die Lausanner Kriminologen getan haben. Bei der abstrakten Fragestellung heisst es schnell einmal, die Richter seien viel zu milde. Besonders dann, wenn Medien und Politik diesen Eindruck mit der Kampagne gegen die „Kuscheljustiz“ noch verstärkt haben.
Die Gruppe der „Extrempunitiven“
Die Studie von Kuhn und Vieille ist geeignet, das Bild von der viel zu milden Justiz zu relativieren. So weit auseinander liegen die Urteile aus der Bevölkerung und der Gerichte offensichtlich nicht. Doch es gibt einen tiefen Graben zwischen den differenziert Urteilenden und der kleinen Gruppe der „Ultrapunitiven“. Diese zeichnet sich nach den Feststellungen der Kriminologen durch ein tiefes Bildungsniveau und mangelnde Kenntnisse des Rechtsystems aus und fordert extrem harte Strafen. Hier müssten die Richter und Richterinnen ansetzen, meint Kuhn. Mit Hilfe der Medien, insbesondere des Fernsehens, sollten sie dafür sorgen, dass auch dieser Teil der Bevölkerung besser versteht, was das Wesen der Strafjustiz ausmacht und wo deren Grenzen liegen.