Das Alter von 28 Jahren und der Umstand, dass er Aphorismen schreibt, sind meist Grund genug, einen Autor zu den „üblichen Verdächtigen“ zu schlagen: den naseweisen Gedankenkonfettifabrikanten, Phrasentauchern, Plattitüdensouffleuren. Schnell sind dann Adjektive der Standardkritik zur Hand, wie „banal“, pointensüchtig“, „eitel“.
Ohnehin weist man die Kunst der Aphoristik gern dem fortgeschrittenen Alter und seinen gut abgehangenen Weisheiten zu. Ein junger Aphoristiker ist dagegen so etwas wie ein hölzernes Eisen. Auf jeden Fall muss es sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit um einen unbescheidenen Schnösel handeln, der in die übergrossen Fussstapfen eines Montaigne, Pascal, Lichtenberg, Goethe, Nietzsche, Wittgenstein, Kraus oder Gernhardt zu treten versucht. Einer, der sich zu ernst nimmt: ein Ernstling.
Philip Kovce ist ein solcher „Schnösel“. Ein umtriebiger, vifer Zeitgenosse, der Bücher schreibt, Beiträge für Printmedien und das Radio verfasst, das Philosophicum Basel mitbegründet hat und Mitglied des jungen Think Tank 30 des Club of Rome ist. Seine im Frühjahr 2015 herausgekommene Aphorismensammlung trägt den aphoristischen Titel „Der freie Fall des Menschen ist der Einzelfall.“ 116 Seiten mit je vier Exemplaren dieser Prosakürzestform.
„Fast nichts, aber das Wesentliche“
Definitionen des Aphorismus neigen selbst fast notwendig zur Aphorismusform. Philip Kovce scheint sich des potenziellen Verdachts vonseiten der Kritik durchaus bewusst zu sein, wenn er Aphorismen mit präemptiver Ironie als „Denklinge“ – unausgereifte Gedanken –, „Geistesblitzableiter“ – bemühtes Geistreichsein – und „Wortspielgefährten“ – Kalauer – bezeichnet.
Beispiele: „Was falscher ist als falsch, ist richtig falsch“; „Schwarze Löcher: Höllenphysik“; „Gedanken verdanken sich dankbaren Denkern“. – Am besten gefällt mir eine Definition, nicht aus seinem Buch, sondern aus einer E-Mail von Philip Kovce. Er schrieb mir vor ein paar Monaten auf meine Zusage, an einem von ihm initierten Projekt über Schillers ästhetische Briefe mitzumachen: „Als ‚Honorar’ erhalten Sie sämtliche 27 Briefe samt Kommentaren im Schuber – das ist fast nichts, aber das Wesentliche.“
„Das ist fast nichts, aber das Wesentliche.“ Genau das trifft das Wesen des Aphorismus: ein Fast-Nichts, das uns wie ein Blitz aus dem Unerwarteten anspringen kann. Der glückliche Moment – „Kairos: Augenblickslicht.“ Ein Streichholz, das angezündet unsere Umgebung flackernd erhellt. Im schlechten Fall erlöscht es schnell wieder; im besten Fall kann seine Flamme erhalten und die Umgebung in ein ständiges Licht getaucht werden: „Aphorismen: kurzweilig, langwierig.“
Die Tücke der Mehrdeutigkeit
Mit fast nichts eine Bedeutung in ihr Gegenteil verkehren: Der „Stand der Forschung bringt sie zum Erliegen“ – wer steht, kann ja auch gleich liegen. Eine schiefe Metapher wird repariert: „Läuft es rund auf der Karriereleiter, so ist sie zum Hamsterrad geworden.“ Ein alter Aphorismus, mit einem Zusatz versehen: „Die Hoffung stirbt zuletzt – wir zuerst.“ Zwei Begriffe frech gepaart: „Der Gegenwind pfeift auf die Einbahnstrasse.“
Hier zeigt sich das Aphoristische in seiner unverminderten horizonterweiternden Brisanz. Im Wort „Aphorismus“ klingt ja auch „Horizont“ mit: das Begrenzende und zugleich Entgrenzende: „Auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten folgt der vom aufschliessenden Dritten.“ Davon zehrt die Mehrdeutigkeit: „Aphoristiker schlagen sich auf die Seite der Mehrdeutigkeit.“
Eine verschmitzte Aussage: Sich auf die Seite der Mehrdeutigkeit schlagen – auf welche Seite denn nun? Man erinnert sich an den alten Witz: Ich bin weder dafür noch dagegen, ganz im Gegenteil. Hier ist aber auch Gefahr im Verzug. Das Fast-Nichts kann ins Zuviel umschlagen; oder ein Zuviel voraussetzen. Etwa dann, wenn der Aphorismus zu augenfällig dem eingeweihten Wisser zublinzelt: „Nietzsche liefert den freien Menschen an sich aus.“ Mitunter unterscheidet sich der Aphorismus fast nicht von Plagiat: „Die Welt ist alles, was der Sonderfall ist“; „Philosophie wäre auch als aphoristische Note zu Platon denkbar.“
Man kann ein Spiel mit Mehrdeutigkeiten auch buchstäblich leerlaufen lassen: „Bis er über ihn stolperte, war sein Lebenslauf ein absoluter Renner.“ Aphorismen sind Gratwanderungen zwischen Mehrdeutigkeiten: es gibt Aufstiege zur Sicht in tiefe Abgründe („Gott ist totenstill“) es gibt Abstürze in die Seichtgebiete („Jede Erleuchtung hat auch ihre Schattenseiten“). Die Balance ist eben auch nur ein Glücksmoment. Und in solchen kommt Kovce gelegentlich zu grandiosen Umdefinitionen: „Der Gottesbeweis: eine Quadratur des Teufelskreises“, oder: „Rüschen- und Spitzenforschung“, oder: „Sinnlos: Welch ein Glückstreffer.“
Auf der Suche nach der umgekommenen Zeit
Aber das ist ja jeder gelungene Einfall. Er treibt uns an zur Suche nach neuem Sinn. Und neuer Sinn entsteht oft aus dem Unverträglichen, Paradoxen, Absurden – die bevorzugte Spielwiese des Aphoristikers. Hier kommt auch eine gewisse Verwandtschaft mit dem Koan zum Vorschein, der asiatischen Kunst, unlösbare Fragen zu stellen. Aphorismen sind ein notwendiges Erkenntnis-Werkzeug. Grosse Naturwissenschafter waren grosse Aphoristiker. Einstein: Der Alte würfelt nicht; Bohr: Das Gegenteil einer tiefen Wahrheit ist ebenfalls eine tiefe Wahrheit; Feynman: Mit der Quantentheorie verstehen die Physiker die Natur, aber die Theorie verstehen sie nicht.
Die Kunst des Fast-Nichts ist eine schwierige Kunst. Sie verlangt die volle Aufmerksamkeit für die unerschöpfliche Fülle des Nebensächlichen, Unscheinbaren, Einzelnen. Und deshalb ist auch der Aphorismus, der dem Büchlein den Titel gibt, gewissermassen als eine methodische Anleitung zu lesen: Aphoristiker wird nur, wer den „freien Fall“ ins Bodenlose wagt. Das sind wenige Einzelfälle. Die Leichtigkeit des schöpferischen Seins lernt man nicht in den eingeübten Gangarten, sondern im Fallen (Gehen ist im Übrigen auch ein Fallen). Im Fallen sind wir schwerelos, das heisst, wir spüren die Gravitation des Gewohnten, Herkömmlichen, Orthodoxen nicht. Das ist eine wunderbare Erfahrung, nur: „Der Fall ins Bodenlose ist ein Abflug ohne Ankunft (sich ans Fallen gewöhnen)“.
Philip Kovces Aphorismensammlung ist vielleicht ein Anachronismus. Aber wie er selber schreibt: „Anachronismen: Ideen, deren Zeit umgekommen ist.“ Am besten, man liest das Büchlein als eine Suche nach der umgekommenen Zeit. Ein auswegloses Unterfangen. Deshalb fange man einfach an.
Philip Kovce: Der freie Fall des Menschen ist der Einzelfall, Futurum Verlag Basel, 2015