Gret Haller beschreibt die Europäische Union als ein politisch und historisch einzigartiges Gebilde. Diesem Gebilde liegt ein ganz spezifisches Menschenbild zugrunde. Im Blick darauf gelingt Haller ein anregender und lebendiger Zugang zu dem eher spröden Thema der EU.
Gret Haller betont, dass die EU in ihrer Wurzel ein Friedensprojekt ist: Nach den zwei verheerenden Kriegen im Europa des 20. Jahrhunderts suchten Politiker nach einem Mechanismus, der künftige Kriege in Europa unmöglich macht. So entstand im Jahr 1951 die Montanunion, in der Frankreich und Deutschland ihre Schwerindustrie aneinander koppelten, so dass sie nicht mehr die Waffen für einen Krieg gegeneinander produzieren konnten. Aus der Montanunion entstand über Jahrzehnte in mehreren Schritten die heutige Europäische Union.
Die neue Ordnung
Haller zeichnet diese Entwicklungen kurz und klar nach, aber die Pointe ihrer Ausführungen liegt in der Frage, welches Menschenbild diesen politischen Zusammenschlüssen zugrunde liegt. Sie geht also vom Menschen aus, nicht von den Institutionen, zeigt aber, wie sich die Menschen im Zeichen politischer Umbrüche im Kern verändern. Mit dieser Betrachtungsweise dringt sie zu den eigentlichen Motiven und Kräften der EU vor, die in der täglichen Berichterstattung vom Einerlei der Kompromisse eitel auftretender Politiker verdeckt werden.
Das als Basis für die EU entscheidende Menschenbild entstand im Zusammenhang mit der französischen Revolution. Sie wurde durch die philosophische Aufklärung vorbereitet, die die Autonomie des Individuums herausarbeitete. In der Parole «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» war das Programm enthalten, dass sich freie Bürger gegenseitig in ihrer Gleichheit respektieren und begegnen. Somit verlangte die Französische Revolution «dem Individuum die Fähigkeit der Kommunikation mit anderen Menschen ab, deren Herkunft mit der eigenen nicht übereinstimmte. Das war damals neu.»
Die Menschen mussten also lernen, Mitbürgerinnen und Mitbürger aus ganz unterschiedlichen Regionen, Traditionen und sozialen Schichten in ihrer Verschiedenheit wahrzunehmen und sie zugleich in ihrer Gleichheit zu respektieren. «Andernfalls wäre man nicht in der Lage gewesen, an der Aushandlung einer Ordnung teilzuhaben, die den Anspruch erhob, Freiheit mit Gleichheit zu verbinden.»
Fremde, aber keine Feinde
Eine weitere Neuerung bestand darin, dass die Menschen in ihren Rollen als Privatpersonen, die zum Beispiel ihrem Gewerbe nachgehen, und als Teil der politischen Ordnung, an der sie mehr oder weniger aktiv zum Beispiel durch Wahlen teilnehmen, gesehen werden. Die Wirtschaft bildet neben dem Staat einen eigenständigen Bereich. In dieser Trennung sind schon die grundsätzlichen Debatten der folgenden Jahrhunderte bis in die Gegenwart angelegt: Soll der Staat im Namen der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit in die Wirtschaft eingreifen, wie es Linke fordern, oder soll er sich so weit wie möglich heraushalten, wie es die Position des Liberalismus verlangt?
Die Ordnung der europäische Union ist die Fortsetzung der politischen Entwicklung, die in der Französischen Revolution ihren Anfang nahm. Sie zielt auf Wohlstand und, wichtiger noch, auf die Wahrung des Friedens. Aber es wird nie ein «europäisches Volk» geben. «Europäerinnen und Europäer bleiben einander fremd, ihr Zusammenhalt beruht nicht auf Homogenität, Ähnlichkeit oder kultureller Nähe. Die neue Dimension besteht darin, dass Bürgerinnen und Bürger anderer Nationalstaaten zwar Fremde bleiben, aber in der Anerkennung dieser Fremdheit nicht mehr als Feinde, sondern als zu respektierende Andere gesehen werden.»
Die essentielle Bedeutung des Rechts
In diesen Tagen wird der Osterweiterung der Europäischen Union vor 20 Jahren gedacht, und Politiker heben mit Vorliebe die Erfolge und die hellen Seiten hervor. Aber Gret Haller sieht in der Aufnahme von Ländern, die in ihrer kulturellen und politischen Geschichte ganz anders geprägt sind als jene, die unter dem Einfluss der französischen Revolution stehen, ein Problem. Denn die Menschenbilder und damit auch die politischen Kulturen unterscheiden sich. Die Kriege auf dem Balkan nach dem Zerfall des Ostblocks erweisen in ihren Augen eine immer noch bestehende unheilvolle Dominanz des Denkens in ethnischen Zugehörigkeiten.
Und sie erweisen, wie fatal es sich auswirkt, wenn die Dominanz des Rechts in Frage gestellt wird. Wie ein roter Faden ziehen sich die Ausführungen Hallers zur essentiellen Bedeutung des Rechts durch ihre Argumentation. Wenn ethnische Zugehörigkeiten und Traditionen durch Freiheit und Gleichheit abgelöst werden, entsteht ein enormer Regelungsbedarf. Dabei geht es nicht nur um die Rechte und den Schutz des Einzelnen, sondern um die friedliche Regelung zwischenstaatlicher Differenzen. So hat sich auch die ehemalige Sowjetunion in der Schlussakte von Helsinki von 1975 dazu verpflichtet, keinerlei Gewalt auszuüben, um etwa Gebietsansprüche durchzusetzen. Diesen Vertrag hat Russland gebrochen und damit das Vertrauen in eine Rechts- und Vertragsordnung zerstört, die zeitweilig als eine neue und höhere Stufe des Umgangs der Staaten untereinander angesehen wurde.
«Fremde bleiben dürfen»
Folgt man Hallers Argumentation, versteht man besser, warum die EU so überaus empfindlich auf Massnahmen beziehungsweise Bestrebungen in Polen und Ungarn zur Einschränkung der Gewaltenteilung reagiert. Geschieht dies auch nur an einzelnen Stellen, ist damit die Axt an das ganze Gebäude des EU-Rechts gelegt. Da kann es keine Kompromisse geben.
Haller führt im Zusammenhang mit den Institutionen der EU zahlreiche Überlegungen zu den Rollen an, die die EU ihren Bürgerinnen und Bürgern als Mitglieder ihrer jeweiligen Nationalstaaten und als Europäer zumisst. Das ist manchmal etwas kompliziert. Nicht jeder Bürger wird auf Anhieb wissen, in welcher Rolle er gerade unterwegs ist. Aber die EU ist ein geschichtlich einzigartiges Gebilde, das unterschiedliche Zugehörigkeiten der einzelnen Bürger so miteinander verknüpft, dass sie untereinander «Fremde bleiben dürfen». Man kann diese Formulierung auch durchaus als an die Schweiz gerichtet lesen, auch wenn Gret Haller die Schweiz nur in ihrem ausführlichen Anmerkungsapparat erwähnt.
Gret Haller: Europas eigener Weg. Politische Kultur in der Europäischen Union. 191 Seiten, Rotpunktverlag, Zürich 2024, CHF 28.00