Der Lebensalltag des Menschen, wird oft gesagt, habe sich zu keinen Zeiten so grundlegend verändert wie in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Und es stimmt wohl auch: Alles ist anders geworden. Oder fast alles.
Auf dem politischen Feld vollzog sich der Wandel in unserem Land eher schleppend. Und ganz besonders viel Zeit beanspruchte der Einzug der Frauen in die Politik, was auch mit dem „Sonderfall“ zu tun hatte. In den von den Weltkriegen direkt betroffenen Ländern lösten die Brüche Emanzipationsprozesse aus und brachten den Frauen die Gleichstellung (u.a. Deutschland, Russland, Österreich 1918, Frankreich, Belgien, Italien 1945/46).
Im verschont gebliebenen Kleinstaat Schweiz war der Druck nach gesellschaftlicher Veränderung gering, die Neigung der Männer zur Teilung der Macht ebenso, und von den Frauen pochte lange nur eine Minderheit auf politische Mitsprache. So konnte sich die herkömmliche Rollenteilung viel länger halten als anderswo.
67 Prozent gegen das Frauenstimmrecht
Mit welcher Inbrunst und Logik, mit welchem Feuer und heiligen Ernst die Männerwelt die angeblich gute alte Ordnung beschwor, lässt sich anhand der Debatte von 1959 zeigen, als der erste Versuch zur Einführung des Frauenstimmrechts unternommen wurde - und mit 67 Prozent Nein-Stimmen massiv scheiterte.
Tauchen wir in jene Männerwelten ein, begeben wir uns zunächst ins Bundesratszimmer, in dem die sieben Herren Ende 1956 das Thema einer ersten grundsätzlichen Aussprache unterzogen.
Das Frauenstimmrecht - "eine Zersetzungserscheinung"
Während den Freisinnigen schien, die Zeit sei nun reif, profilierte sich der katholisch-konservative Philipp Etter als Verteidiger der alten Ordnung. Zwar plädierte auch er für eine Abstimmung, da andernfalls "das Problem nicht nur Ruhe" komme. Doch er erklärte sich dezidiert als Gegner des Frauenstimmrechts, "denn es handelt sich hier", hält das Protokoll fest, "um eine Zersetzungserscheinung auf Grund einer Überbewertung des Politischen und Staatlichen zu Lasten höherer menschlicher und vor allem fraulicher Werte. Die Frau wird, wenn sie in die Politik hineinkommt, nur verlieren. Die Ehrfurcht vor der Frau wird schwinden."
Als der Bundesrat im folgenden Jahr dann den Räten seine Botschaft unterbreitete, holte er zur Entkräftung der Gegenargumente weit aus - man muss sagen: schwindelerregend weit.
Keine Rede mehr vom "Schwachsinn des weiblichen Geschlechts"
So liess er sich etwa vernehmen: "Heute ist die Erkenntnis allgemein durchgedrungen, dass von einem angeborenen ‚Schwachsinn des weiblichen Geschlechts‘, der sogenannten imbecillitas sexus, die früher zur Begründung der Geschlechtsvormundschaft des Mannes über das Weib angerufen wurde, nicht die Rede sein kann. Es dürfte auch die Auffassung der heutigen Medizin sein, dass die Intelligenz nicht ausschliesslich nach dem relativen Gewicht des Gehirns bestimmt werden kann."
Vertieft man sich in die Voten, die dann im Abstimmungskampf fielen, so manifestieren sich gewisse Zweifel, ob die imbecillitas sexus je eine geschlechtsspezifische Erscheinung war. Geben wir ein paar Kämpfern wider die Frauenrechte das Wort.
Frauenstimmrecht bringt "uferlose Expansion der Demokratie"
"Wenn man schon gesagt hat, dass die Demokratie noch die erträglichste Form menschlicher Unzulänglichkeit sei, dann sollte diese Erträglichkeit nicht noch durch eine uferlose Expansion der Demokratie zur Unerträglichkeit gesteigert werden. Ich befürchte, dass mit der Einführung des Frauenstimmrechtes bis an die Grenze der Erträglichkeit der menschlichen Unzulänglichkeit vorgestossen wird." (Luzerner Nationalrat der Katholisch-Konservativen Partei (KK), heute CVP)
"Durch Einführung des Frauenstimmrechts könnten die Familien- und Nachbarstreitigkeiten sicher intensiviert werden. Ich denke hier beispielsweise auch an die Verhältnisse in Luzern, wo sehr harte Abstimmungs- und Parteikämpfe geführt werden […] Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die Verhältnisse bessern, wenn auch den Frauen das Stimm- und Wahlrecht eingeräumt wird. Hier ist des grausamen Spiels genug." (Aargauer Ständerat der KK)
Den Landfrauen die Kränkung ersparen
"In den Städten haben es die Frauen viel einfacher, zur Urne zu gehen als die Frauen auf dem Land, wo die Wege weit und, vor allem im Winter, beschwerlich sind. Wir möchten diese unglückliche Entwicklung zum vornherein bekämpfen; wir möchten unseren Landfrauen die Kränkung, die sie dadurch erfahren müssten, ersparen." (Berner Nationalrat der BGB, heute SVP)
"Ich möchte die Frau nicht als Kämpferin in die politische Arena hinabsteigen sehen, sondern stelle sie mir vor als Stauffacherin, die den Mann ermuntert, die ihm durch ihre Häuslichkeit die Gemeinde und das Land lieb macht, in dem er als stimmberechtiger Bürger etwas zu sagen hat. Ich möchte sie als Mutter sehen, die auf ihren Knien ihre Söhne zu verantwortungsbewussten Menschen gegenüber Gott und Vaterland erzieht. Ich möchte sie sehen als königliche Frau, die herrscht, ohne es zu wollen." (Aargauer Nationalrat der KK)
Die Mutter aller Argumente aber schöpften die Gegner aus der Verknüpfung von Wehrfähigkeit und Wahlrecht. Auch darin zeigt sich der Sonderfall. In den meisten europäischen Ländern war mit den Desillusionen, die die Kriege, die Kriegsverbrechen und die Niederlagen zur Folge hatten, auch das Ideal des heldenhaften Soldaten zerstört worden.
Ironie der Geschichte, Frauenmehrheit im Bundesrat
Nicht so in der verschonten Schweiz. Die Wehrhaftigkeit blieb eine Grundtugend, das Bild des wehrhaften Mannes intakt. So konnten sich die Gegner, unbelastet von Dämonen der Vergangenheit, auf die ziemlich weit in die Geschichte zurückreichende Theorie berufen, laut der die Ausübung politischer Rechte Ausfluss der Wehrfähigkeit und demzufolge Sache des Mannes und nur des Mannes ist. Selbst der Appell des allseits verehrten General Guisans, dem Frauenstimmrecht zuzustimmen, vermochte da nichts auszurichten.
Zurück in die Gegenwart, zurück in die herbstlichen Tage, in denen auch eine gewisse Ironie der Geschichte in der Luft liegt. Just in dem Augenblick, da die Frauen im Begriff sind, erstmals die Mehrheit in der Regierung zu stellen, gleicht das Wehrwesen, einst fast abgöttisch verehrte Quelle männlicher Machtausübung, einem Trümmerfeld. Undenkbares wird Realität – in zweifachem Sinne.