‚Diese Wasserwesen haben mich schon immer fasziniert, ich hatte ja schon 1993 ‚Undine’ zur Musik Hans Werner Henzes gemacht’, sagte John Neumeier.
Der amerikanische Starchoreograph, hervorgegangen aus der legendären Balletttruppe John Crankos in Stuttgart, leitet seit 1973 das Hamburger Ballett und hat dort auch seine eigene Ballettschule. Weltweit geschätzt wird er vor allem durch seine abendfüllenden Ballette und seine Neufassungen von historischen Handlungs- und Märchenballette. Das berühmte ‚Weihnachtsballett’ und ‚Der Nussknacker’ wurden von ihm bearbeitet, wie auch ‚Giselle’, ‚Dornröschen’ und ‚Illusionen- wie Schwanensee’. Er bemüht sich dabei neue zeitgenössische Formen, dramatisch wie sinfonisch, zu finden. Für sein neues Ballett hatte er dafür mit der in Sibirien geborenen Lena Auerbach eine junge Komponistin gefunden, die auch als Autorin und Pianistin erfolgreich ist, und schon für Grössen wie die Dresdner Staatskappelle und Gidon Kremer komponierte. Sie schuf die Musik fürs Ballett in Rekordzeit.
‚Die kleine Meerjungfrau’ war ein Auftragswerk zur Neueröffnung der Königlichen Oper von Kopenhagen 2005 und zum 200. Jubiläum von Hans Christian Andersen. Neumeier widmete es der hoch gebildeten und künstlerisch selbst aktiven Königin Margrethe II. ‚in tiefer Bewunderung’. Seitdem hat das Ballett aber einige Veränderungen erfahren. Neumeier: ‚Ich muss alles immer wieder verändern. Die endgültigen Fassungen der Ballette habt ich erst, wenn ich tot bin.’ Baden Baden zeigt jetzt die letzte ‚Hamburger Fassung’.
Erzählt wird die bewegende Geschichte der kleinen Meerjungfrau, die einen ins Meer gefallenen Prinzen findet und vor dem Ertrinken rettet und an den Strand legt. Dabei verliebt sie sich in ihn. Um aber mit ihm auf der Welt zu leben, muss sie ihren Schwanz ablegen und zu Beinen kommen. Die Meereshexe verspricht ihr das. Doch unter fürchterlichen Bedingungen: Sie wird bei jedem Auftreten Messer in ihren Füssen spüren und wenn sie die Liebe des Prinzen nicht gewinnt, muss sie sterben. Die Meeresjungfrau willigt ein und findet sich nun nicht nur in einem ihr fremden Element unter widrigen Umständen, sondern kann zwar die Zärtlichkeit, nicht aber die Liebe des Prinzen gewinnen. Dieser hat sich in das Mädchen verliebt, dessen Gesicht er als erstes nach seiner Rettung sah, und die er nun als seine Retterin ansieht. An seinem Hochzeitstag gibt die Meereshexe der Jungfrau eine Möglichkeit ihrem Tod zu entgehen; sie solle dafür den Prinzen töten. Doch diese liebt ihn immer noch sehr und bringt es nicht über sich. So endet sie als Meeresschaum auf den Wogen.
Neumeier erklärte sich zutiefst bewegt von einer Liebe, die so tief und umfassend ist, dass man bereit ist, dafür alles aufzugeben. Er erinnerte auch daran, dass Hans Christian Andersen immer unglücklich war, auch weil seine grosse Liebe jemand anderes geheiratet hatte. Er glaubt, dass dieses Märchen deshalb das autobiographischste Werk Andersens sei.
Auch wies Neumeier darauf hin, dass diese ‚Wassermädchen immer in eine andere Welt hinaus wollen; eine in der sie nicht in ihrem Element sind.
Bühnenbildnerisch ist dies bei dieser Fassung genial gelöst. Wellenfäden aus Neon heben und senken sich, je nachdem ob wir uns im Wasser befinden, - Fäden an der Decke, Licht blau -, oder auf der Erde, - Fäden am Boden, Licht und Dekoration gelb und ocker. Bühnenbild, Dekoration und Kostüme sind in ihrer klaren Einfachheit und sparsamem, bewusst gesetztem Einsatz, bei höchsten ästhetischen Ansprüchen, ein wahrer Genuss. Sie sind zum getanzten Geschehen komplementär, doch lenken nie ab.
Die beiden Welten: Die Wasserwelt, in der sich die Meerjungfrau sicher und wohl fühlt, der Prinz aber nicht, sowie die Erde, wo das Gegenteilige stattfindet, werden als Pole immer wieder zitiert, auch in den Pas-de-Deux. Und ihrer Tanzweise! Die Meeresbewohner ergehen sich in runden, fliessenden, meditativen Bewegungen. Die Erdenbürger, wie die Matrosen auf des Prinzen Schiff, hingegen zeigen kraftstrotzende, athletische Tänze zu Melodien basieren auf altrussischen Matrosenliedern. Sie leben in einer konfrontationsreichen Machowelt, die in starkem Gegensatz steht zur harmonisch fliessenden des Meeres. Die Konfrontationen und Wechselwirkungen dieser beiden Welten sind Neumeier gelungen. Die sehr einfühlsame Musik verstärkt Charakteristiken, wie Atmosphären.
Der Erzählstrang der Geschichte allerdings, wird immer wieder unterbrochen. Einmal durch die überlange Darstellung der Meereswelt, dann, während der Hochzeitsfeier, durch an den ‚Nussknacker’ erinnernde Nummernballette, die zusätzlich von der Geschichte abweichen. Diese Längen sind untypisch für Neumeiers Aufführungen. Auch fragt man sich hier ob er die weibliche Natur wirklich versteht. Die unglückliche Meerjungfrau, die sieht, dass sie den Prinzen an ein Erdenmädchen verliert, wird zum um Aufmerksamkeit und Liebe bettelnden Clown. Sie verliert jegliche Würde und ist am Ende nur noch ein verzweifeltes Häufchen Elend; hier dargestellt als ferngesteuerte mechanische Puppe. Ein mitleiderregendes Anhängsel. Würde eine enttäuschte Frau wirklich so reagieren?
Es wäre zu wünschen, dass John Neumeier sich dieses sehr sehenswerte Ballett nochmals vornimmt und noch die letzten Ungereimtheiten beseitigt.