Indien zeichnete sich in den letzten Wochen durch die erstaunlich geringe Ausbreitung der Coronavirus-Infektion aus. Das änderte sich am 24. März, als Premierminister Narendra Modi mit seinem Lockdown-Hammer ein Chaos anrichtete, das jeden Gewinn in der Eindämmung der Ansteckungen zunichte machen könnte.
Ohne Job, ohne Schutz
Bereits am ersten Tag zeigte sich, dass das Herunterfahren der Wirtschaft ohne Absprache mit den Fachministerien, Bundesstaaten, Wirtschaftsverbänden sowie den zahlreichen Organisationen der Zivilgesellschaft erlassen worden war. Der Schwarze Peter landete bei der Polizei, die nur dafür gerüstet war, mit ihren Schlagstöcken dreinzuhauen.
Fatal war auch die obrigkeitsstaatliche Attitüde, mit der Modi das Ausgehverbot rechtfertigte. Er sprach mit Recht von der Gefahr, die vom Virus ausgeht, wenn sich Menschen keine physische Distanzierung auferlegen. Aber er liess das wichtigste Element dabei vermissen – das Werben um das Einverständnis jedes Bürgers.
Stattdessen klangen seine Anweisungen so, als sei Indien ein Wohlfahrtsstaat, wo jeder ein Dach über dem Kopf hat und ein soziales Netz den Verlust von Arbeitsplatz und Wohnstatt erträglich macht. Der gewiefte Massenpolitiker Modi schien nicht zu wissen, dass über 80 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung keinen festen Job hat und damit keinen Versicherungsschutz geniesst.
Verwaiste Baustellen
Ganz im Sinn des Obrigkeitsstaats, der Indien immer noch ist – die vielen bestehenden Kolonialgesetze sind ein Beweis dafür – beorderte er die Bevölkerung ins Haus, das in den meisten Fällen eine überfüllte Hütte ist.
Nichts zeigt dies drastischer als der Bausektor. 51 Millionen Inder sind beim Bau von Häusern, Brücken und Strassen tätig. 95 Prozent von ihnen sind Arbeitsmigranten, die von Baustelle zu Baustelle ziehen. Während die Männer Stahlträger montieren und die Frauen auf ihren Köpfen Pflasterkübel tragen, spielen die Kinder auf den Sandbergen. Die Dächer ihrer Hütten sind nicht selten zusammengeschnürte leere Zementsäcke.
Seit dem letzten Mittwoch ist jede Baustelle im Land verwaist. Die meisten Arbeiter sind auf der Strasse, ausgeschlossen von der Baustelle und gleichzeitig von ihren Behausungen. Mit Millionen anderen haben sie sich aufgemacht, um in ihre Dörfer zurückzukehren.
Schikanen der Polizei
Am Tag nach Modis Rede präsentierte die Finanzministerin einen Unterstützungsplan, der sich dadurch auszeichnete, dass er grosse Geldsummen nannte, die der Staat nun zur Verfügung stelle. Aber eine Woche danach gab es immer noch keine Instruktionen für konkrete Massnahmen. Und die Regierung war völlig unvorbereitet für die Völkerwanderung, die sie ausgelöst hatte und die nun zu einem Todestreck zu werden drohte.
Nur die Polizei schien zu wissen, was zu tun war. Ashif Shaikh, ein Mitarbeiter der NGO Jan Sahas, die in den Grossstädten Delhi und Mumbai Bauarbeiterkolonien betreut, schrieb darüber in einem Blog. Er hatte von einem ihm persönlich bekannten Bauarbeiter namens Gyandin gehört, der sich auf den Weg nach Hause gemacht hatte und ihm von seinen Erfahrungen berichtete.
„In den letzten beiden Tagen haben uns Polizisten bei vier verschiedenen Gelegenheiten zusammengeschlagen. Ein Polizeigefreiter zwang mich, auf der Strasse zu kriechen, als Strafe für die Verletzung des Ausgehverbots. In vielen Dörfern, die wir passierten, haben uns Leute mit Steinen beworfen und als Virus-Infizierte verhöhnt. Wir haben kein Geld, und seit 24 Stunden haben wir nicht mehr gegessen. Aber wir werden nicht aufgeben und weiter laufen, um nach Hause zu kommen.“
Überall im Land haben sich Bus- und Lastwagenbesitzer bereit erklärt, die Migranten aufzunehmen und kostenlos nach Hause zu fahren. Aber gemäss den Bestimmungen des Ausgehverbots muss jede Fahrt bewilligt werden. Und jetzt müssen Antragsteller nicht nur Indiens Red-Tape-Bürokratie überwinden. Bei einem Notstand weiss niemand, wer für die Ausstellung eines Passierscheins zuständig ist.
Soziales Stigma
Ähnliche Hürden gelten für die zahlreichen NGOs und zahllose spontane Bürgerinitiativen. Die Regierung betrachtet Organisationen der Zivilgesellschaft ohnehin mit grossem Misstrauen. NGOs erscheinen nicht auf der Liste „essenzieller Dienstleistungen“, die vom Ausgehverbot dispensiert sind. Sie wurden bisher von der Zentralregierung auch nicht zur Mitarbeit eingeladen.
Allerdings gilt dies nicht für Bundesstaaten, in denen die BJP nicht am Ruder ist. Dort kommt es nun zu einer Zusammenarbeit bei der Verpflegung und Unterkunft der vielen tausend Corona-Flüchtlinge sowie beim Aufbau von Schutzmassnahmen vor ihrer Ankunft in den Dörfern. Zudem ist es überaus wichtig, Aufklärungsarbeit zu leisten.
Die Erfahrung des Arbeiters Gyandin auf seiner Wanderung durch Dörfer beweist, dass das Virus sonst rasch auch zu einem sozialen Stigma mutiert. Nicht überall geht es so glatt ab wie in einem Dorf in Westbengalen, wo sieben Rückkehrer auf Mangobäumen ausserhalb des Dorfes vierzehn Tage Quarantäne verbringen müssen; ein Brett im Astwerk ist ihr Bett, und die Nahrung wird am Fuss des Baums hinterlegt. In Bihar hatten zwei Heimkehrer weniger Glück. Sie starben, als sie ihr Dorf betreten wollten und mit Gewalt daran gehindert wurden.
Infektionsherd in Delhi
Die „Heimtücke“ der drohenden Infizierung durch die unsichtbare Mikrobe bietet sich als Rechtfertigung sozialer Ausgrenzung geradezu an. Dies haben nun auch die Hindutva-Anhänger gemerkt, die der massiven Kritik an der bisherigen Regierungspolitik bisher wenig entgegensetzen konnten.
Die Gelegenheit dazu bot sich, als in den letzten Tagen bekannt wurde, dass ein grosses Treffen einer muslimischen Organisation in der Hauptstadt Delhi zu einem massiven Infektionsherd mit einer grossflächigen Ansteckung geworden ist.
Es handelt sich um den Tablighi Jamaat, eine konservative Bruderschaft mit Millionen Mitgliedern in der islamischen Welt. Für das Treffen Ende Februar reisten mehrere tausend Tablighis aus allen Teilen Indiens an; mehrere hundert kamen zudem aus südostasiatischen Ländern. Sowohl vor der Konferenz wie danach zerstreuten sich viele in verschiedenen Bundesstaaten, wo sie in Dörfern Missionierungsarbeit leisteten und für die Teilnahme am Treffen warben.
CoronaJihad
Es ist unklar, wie das Coronavirus eingeschleppt wurde. Aber kurz vor einer Nach-Konferenz erkrankten eine Reihe von Teilnehmern. Jene, die in die Dörfer ausschwärmten, infizierten Menschen. In Tamil Nadu allein wurden bisher 167 Menschen angesteckt, und beim Contact-Tracing erwies sich, dass zwei von drei Covid19-Erstübertragern Tablighis waren. Von den rund 2’000 Leuten, die im Zentrum der Organisation in Nizamuddin im Herzen von Delhi zurückblieben, entwickelten dreihundert Infektionssymptome; das muslimische Viertel wurde daraufhin abgeriegelt.
Als dieser Infektionsherd im Laufe der letzten Woche publik wurde, griffen die regierungshörigen elektronischen Medien rasch zu. Republic TV, eine Art indischer Fox-News-Kanal, sprach sofort von einer muslimischen Verschwörung, die auf das „Lebensmark der Hindu-Mehrheit“ abzielte. Es verging kein Tag, und schon war unter dem Twitternamen CoronaJihad in den Sozialen Medien ein neuer Kampfruf entstanden.
Derweil haben die unabhängigen Medien Mühe, sich noch Gehör zu verschaffen. Nicht nur kommt es zu Unterbrüchen in den Materiallieferung der Zeitungen; auch Reporter und Redaktoren geniessen keine Befreiung vom Ausgehverbot. Wie in anderen autoritären Demokratien benutzt die indische Regierung den Virus-Notstand, um den Medien einen Maulkorb anzulegen. Jeder Bericht über das Coronavirus muss vor seiner Veröffentlichung von einer Regierungsstelle genehmigt werden, „um falsche Gerüchte zu unterbinden“.
Am Donnerstag kam es zum ersten Mal nach zwei Monaten Virus-Alarm zu einer breiten und vertieften Aussprache zwischen der Zentralregierung, den Regierungschefs der verschiedenen Bundesstaaten sowie den zuständigen Departementen. Sie wurde von Premierminister Narendra Modi geleitet, und in einer anschliessenden Fernsehansprache informierte er die Öffentlichkeit. Er appellierte dabei an deren Gehorsam und versprach eine baldige Lockerung des Ausgehverbots. Über die vielen hunderttausend Menschen allerdings, die immer noch auf ihrem Nachhause-Weg sind, verlor er kein Wort.