Über mehrere Jahrzehnte hat Jakob Tuggener ländliche Regionen in den Kantonen der Schweiz besucht. Die Ausstellung in Winterthur trägt den Titel: «Die 4 Jahreszeiten». Neben seinen Fotos aus der Welt moderner Maschinen und den rauschenden Ballnächten in St. Moritz erweisen diese heimatlichen Bilder einmal mehr seine enorme fotografische Kraft.
Jakob Tuggener verstand die Fotografie als seine ganz spezielle künstlerische Sprache. Dieses Medium stellte an ihn unhintergehbare Forderungen. Einträgliche Aufträge, die ihn in seiner künstlerischen Freiheit beschnitten hätten, lehnte er ab. Und zeitweilig versenkte er sich so in seine Arbeit, dass er aus der Öffentlichkeit geradezu verschwand.
Im Dienst seiner Bestimmung
Tuggener lebte seit Anfang der 1960er Jahre in Zürich zurückgezogen in einer winzigen Kellerwohnung, andere sprechen von einem Atelier. Darin bewahrte er seine Fotos, seine Aquarelle, seine mehr als 60 Buchmaquetten, mehr als zwanzig Stummfilme und anderes auf. Als er 1988 starb, war auch die Fachwelt vom Umfang und der Vielfalt seines Nachlasses überrascht. Die Tuggener-Kenner Martin Gasser und Guido Magnaguagno sprachen von einer «der letzten fotografischen Schatztruhen.»
Jakob Tuggener suchte sich seine Themen danach aus, «was besonders meine Seele bewegt und erregt». In den Jahrzehnten seiner konstanten und unermüdlichen Arbeit bot seine Themenvielfalt Kontraste, die bei den Zeitgenossen Irritationen auslösen konnten. So war er von modernen Maschinen – vom «Eisen», wie er schreibt – ebenso fasziniert wie von den Arbeitern, die sie bedienten. Gleichzeitig liess er sich von Ballnächten in Berlin, Zürich und vor allem in St. Moritz faszinieren. Prickelnde Erotik und Frivolität vor dem Hintergrund der Krisen- und Kriegsjahre verleihen diesen Bildern bis heute eine nahezu unwiderstehliche Anziehungskraft.
Die Faszination der Gerüche
Nimmt man diese beiden Pole der Themen, so erstaunt, dass auch das bäuerlichen Leben und die Landschaften der Schweiz über Jahrzehnte den Künstler in der Weise bewegten, dass er ganz darin aufging. Wo Städter bisweilen die Nase rümpfen, schwärmte er von den Gerüchen und schaffte es, diese Begeisterung mit formal und ästhetisch überzeugenden Bildern zum Ausdruck zu bringen.
Es gibt eine Szene, die alles über seine Arbeitsweise aussagt. Er wollte die Küche einer Bäuerin fotografieren. Für sie war völlig klar, dass dafür erst einmal aufgeräumt und saubergemacht werden musste. Genau das brauchte er nicht. Er wollte die Küche mit der Bäuerin und noch einem Huhn, das sie gerade verscheuchen wollte, so wiedergeben, wie er sie gesehen hatte. Jedes Arrangement hätte diesen Eindruck nur zerstört.
Die Leica
Tuggener fotografierte seit 1934 mit einer Leica und verwendete nur Schwarzweissfilme. Daneben filmte er ebenfalls schwarzweiss in 16 mm. Als er im Zusammenhang mit einer Auftragsarbeit auf ein grösseres Filmformat umsteigen musste, wobei die Auftraggeber selbstverständlich Farbe und Ton verlangten, war das für ihn eine Tortur. Nie wieder!
Die Leica war damals die ideale Reportagekamera, kompakt und zugleich technisch überragend. Sie erlaubte es Tuggener, den Menschen ganz unaufdringlich nahe zu kommen. So fotografierte er während seines Aktivdienstes im Zweiten Weltkrieg seine Kameraden, denen er seine Porträts auch verkaufte. In einem Lager in der Nähe waren Polen interniert. Wiederholt besuchte er sie, und dabei entstanden ebenfalls eindringliche Bilder. Tuggener konnte den Menschen nahekommen und sich von ihnen bewegen lassen. In seiner Arbeit muss er äusserst beharrlich gewesen sein, denn in der Ausstellung und in seinen Büchern zeigt sich eine beeindruckende Konstanz.
Konstanz, aber keine Routine. Tuggener bezeichnete sich selbst als Expressionisten und als «fotografischen Dichter». Er probierte Neues aus und verfeinerte dabei seine technische Meisterschaft. Das sagte er selbst von sich. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm nicht.
Der Frühlingswind
Das Bild «Im Frühlingswind» entstand in den 1950er Jahren. Im Vordergrund ein blühender Baum, im Hintergrund zwei Radfahrer. Tuggener hat die Kamera leicht mit den Radfahrern mitgezogen, so dass die Blüten des Baumes etwas länglich wirken und eine entsprechende Bewegungsunschärfe aufweisen. Die Fahrradfahrer wiederum sind entsprechend ein klein wenig schärfer abgebildet, weil sich ihre Bewegungsrichtung mit der der Kamera deckt. Dieses Bild dürfte wohl am besten das repräsentieren, was Tuggener meinte, als er vom Expressionismus sprach und davon, dass er immer auch fotografisch Neues riskiere, dabei aber seine Meisterschaft bewahre.
Das Titelfoto des Begleitbandes – Abbildung ganz unten – erweist die Geistesgegenwart Tuggeners und seinen Mut, Menschen ganz unkonventionell zu porträtieren. Die junge Frau am Fenster amüsiert sich über etwas und schaut über die Schulter hinter sich, nicht auf den Fotografen, wie man es normalerweise erwartet. Und sie bildet eine perfekte Diagonale, der rechte Arm am Fensterrahmen formt die Hälfte eines Rechtecks. Dieses Bild hat eine magische Anziehungskraft. Wie schrieb doch Tuggener gegen sprachliche Bilderklärungen? «Denn die Seele liegt tiefer unten, dort, wo keine Worte hinzudringen vermögen. Dieses Reich ist viel grösser als die Peripherie des Verstandes.»
Die Korrespondenz der Bilder
Bereits 1942/43 gestaltete er mit seinen Fotografien vier Buchmaquetten zum Thema Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Dazu verwendete er auch Bilder aus der Vorkriegszeit, die aber nicht veröffentlicht wurden. Mit grossem handwerklichen Geschick fügte er seine selbst verfertigten Abzüge so zusammen, so dass sie wie ein Buch aussahen. In Winterthur sind diese Maquetten, die alle das Format 30 x 40 cm haben, ausgestellt.
Daran zeigt sich, wie sehr sich Jakob Tuggener für die Bezüge zwischen den Bildern interessiert hat. Die Bilder sollten miteinander korrespondieren, miteinander zu sprechen beginnen. Diese Sprache ist die Sprache Tuggeners, Bildlegenden würden aus dieser Perspektive die Aussagen der Bilder bloss abschwächen. Ein anderer Schweizer Fotograf, der ebenso kompromisslos wie Tuggener war, hat sich ebenfalls zeit seines Lebens mit der immer wieder neuen Zusammenstellung seiner Bilder beschäftigt: Robert Frank, der mit «The Americans» (1958) in den Augen mancher Experten das wichtigste Fotobuch des 20. Jahrhunderts geschaffen hat.
Dank der Hilfe von Robert Frank fanden Bilder von Jakob Tuggener auch international starke Beachtung. Frank ebnete ihm Wege, so dass er in den Ausstellungen «Post-War European Photography» (1953) und»The Family of Man» (1955) im Museum of Modern Art in New York vertreten war.
Und die Bilder vom Leben auf dem Land wurden in verschiedenen Zusammenhängen gezeigt und beachtet: 1964 in der Landesaustellung in Lausanne und in einem Bildband des Forum alpinum im Jahr 1965. Teilweise kamen von dieser Seite auch Aufträge, die seine prekäre finanzielle Situation etwas abmilderten. Gleichwohl hatte er den Eindruck, von der Fotografie nicht leben zu können, und verkaufte zeitweilig Aquarelle, um sich über Wasser zu halten.
Die Ausstellung im Helmhaus
Sein vielleicht grösster Publikumserfolg war seine Ausstellung im Zürcher Helmhaus von 1974. Sie öffnete Tuggener auch die Tür zur Publikation einiger Bilder in der Ausstellung «Fotografie in der Schweiz 1840 bis heute». Im Jahr 1969 strahlte das Schweizer Fernsehen einen Film über Tuggener aus, den der renommierte Kulturjournalist Dieter Bachmann gedreht hatte. Tuggener war tief berührt. Und im Jahr 1982 wurde er als erster Fotograf überhaupt mit dem Kulturpreis der Stadt Zürich geehrt.
Es ist eine spekulative Frage, ob Jakob Tuggener auch den höchst eigenwilligen amerikanischen Fotografen Saul Leiter kannte. Geistesverwandt waren sie jedenfalls. Auch Leiter entschied sich nach einer kurzen erfolgreichen fotografischen Karriere für ein zurückgezogenes Leben, das er ganz seiner Kunst widmete und so gut wie gar nicht finanzieren konnte. Er fotografierte wieder und wieder seine unmittelbare Umgebung und stiess mit seiner Kamera in Bereiche abstrakterer Formgebung vor, wobei er auch Farbe verwendete. Und ebenso wie Tuggener war Leiter ein Maler. Und beide atmeten die Luft neuer fotografischer Welten.
Gemeinsam ist beiden auch, dass sie zu Lebzeiten noch nicht den Ruhm ernteten, der ihnen später beschieden war. Heute ist Saul Leiter international ein Renner, aber er starb im Jahr 2013. Punktuell erreichte Tuggener schon zu Lebzeiten ein etwas breiteres Publikum. So erschien 1943 sein Buch «Fabrik», und im Jahr 1949 wurde ihm das ganze Oktoberheft der Zeitschrift Kamera gewidmet. Aber seine Bilder von den Ballnächten wurden erst im Jahr 2005 im Scalo Verlag publiziert. Stärkere Beachtung fanden sie nur im Zusammenhang mit einer Ausstellung in München im November 1969, wodurch sie aber in einen sozialkritischen Zusammenhang gestellt wurden, der Tuggener völlig fern lag.
Aber erst heute, im Rückblick, erschliesst sich sein gesamtes Werk in seiner Vielfalt und Eindringlichkeit. Dazu tragen auch die Bände bei, die im Steidl Verlag in Göttingen erschienen sind und noch erscheinen. Nach und nach tritt immer mehr vor Augen, welche Ausnahmeerscheinung Jakob Tuggener in der ohnehin schon sehr beachtlichen Schweizer Fotografiegeschichte ist. Man kann nur hoffen, dass bald wieder einmal etwas aus seinem reichhaltigen Fundus gezeigt wird. Und nicht zuletzt kann man in ihm einen Künstler sehen, der gerade dadurch seine Authentizität bewahrt hat, dass er sich nicht den Gesetzen den Kunstmarktes unterwarf. Das könnte vielleicht dem einen oder anderen Nachwuchstalent zu denken geben.
Jakob Tuggener – Die 4 Jahreszeiten. Fotostiftung Schweiz, bis 20. Mai 2024
Begleitband: Jakob Tuggener – Die 4 Jahreszeiten, Steidl / Fotostiftung Schweiz / Jakob Tuggener-Stiftung, fotostiftung.ch/shop