Al-Ḥašd al-Šaʿbī, kurz Haschd, ist der Überbegriff für ein Konglomerat paramilitärischer Einheiten im Irak, die parallel zu den irakischen Streitkräften existieren und oft auch als Milizen bezeichnet werden. Die Einheiten sind grösstenteils konfessionell getrennt; die meisten Mitglieder der Haschd sind Schiiten, es bildeten sich aber auch sunnitische, turkmenische, kurdische und yezidische Formationen.
Unklare Grössen- und Loyalitätsverhältnisse
Die über sechzig verschiedenen paramilitärischen Gruppen, aus denen sich die Haschd zusammensetzt, unterscheiden sich erheblich in Grösse und Ausrichtung, teilweise stehen sie sich sogar feindlich gegenüber. Schätzungen zur Truppenstärke reichen von 80’000 bis zu weit über einer Million Mann; realistisch scheint gegenwärtig die Zahl von 100’000 bis 160’000 Angehörigen zu sein. Über die soziale Zusammensetzung der Haschd ist wenig bekannt. Während für Milizen lange die Rekrutierung aus schiitischen Armenvierteln bedeutsam war, scheinen seit 2014 breitere Bevölkerungsschichten in den Einheiten vertreten zu sein.
Der Name al-Ḥašd al-Šaʿbī lässt sich als «Volksmobilisierung» übersetzen, oft findet sich auch die englische Abkürzung PMU (Popular Mobilisation Units). Die Bezeichnung verweist auf die Selbstlegitimation dieser Einheiten als aus der Bevölkerung hervorgegangene Verteidigung gegen den Kampfbund «Islamischer Staat» (IS). Diese Selbstdarstellung nutzt auch den doppelten Referenzbereich von «ḥašd» sowohl für Menschen, die sich versammeln, wie auch militärischer Mobilisierung – wobei der Bezug auf den militärische Aspekt durch die Entwicklungen ab 2014 deutlich an Bedeutung gewonnen hat. Dagegen hat die Bezeichnung «Miliz» längst einen äusserst negativen Beiklang aufgrund der Entwicklungen im Irak seit 2003, weshalb sie von den Haschd auch abgelehnt wird.
Schiitische Milizen im Irak nach 2003
Schiitische Milizen prägen den Irak, seit 2003 eine amerikanisch geführte Militärkoalition das Baath-Regime von Saddam Hussein gestürzt hat – und genauso alt ist ihre Konkurrenz untereinander. Prominente Beispiele sind die Badr-Brigaden (faylaq badr) und die Mahdi-Armee (ǧayš al-mahdī). Anfang der 80er im Iran als militärischer Flügel von schiitisch-irakischen Exilparteien gegründet, kontrollierten die Badr-Brigaden (später umbenannt in Badr-Organisation) das Innenministerium und wurden für konfessionelle Gewalt gegen die sunnitische Bevölkerung verantwortlich gemacht.
Letzteres gilt auch für die Mahdi-Armee unter Kontrolle des Geistlichen Muqtada al-Sadr. Doch selbst zwischen 2006 und 2008, als die konfessionelle Gewalt einen Höhepunkt erreichte, wurde immer wieder von Zusammenstössen zwischen Mahdi-Armee und Badr-Brigaden berichtet. Gekämpft wurde um Einflussgebiete und um die Kontrolle innerhalb der Verwaltung – und damit dum den Zugang zu den mit Erdölexporten alimentierten Staatskassen. Anders als die Badr-Brigaden wandte sich die Mahdi-Armee zudem gegen die amerikanische Präsenz und führte 2004 den ersten grossen schiitischen Aufstand gegen die amerikanischen Truppen an. Es folgten mehrere Konfrontationen zwischen Sadrs Miliz und der (von den Badr-Brigaden geprägten) Polizei, bis die irakische Armee schliesslich 2008 gegen die Mahdi-Armee vorging und so die Kämpfe beendete.
Während der langjährige Premierminister Nuri al-Maliki den Milizen zunächst kritisch gegenüberstand, änderte er diese Haltung unter iranischem Einfluss – nicht zuletzt um zu verhindern, dass die Mahdi-Armee zu viel Macht erlangen konnte. Ausserdem nutzte Maliki Milizen, um gegen Protestbewegungen vorzugehen, die ab 2011 in den sunnitischen Gebieten immer bedrohlichere Ausmasse annahmen.
Malikis Bemühungen, seine Macht zu sichern, konvergierten mit iranischen Interessen – nicht nur im Irak, sondern mit dem Ausbruch des dortigen Krieges auch in Syrien. Neue schiitische paramilitärische Einheiten entstanden, die in Syrien auf Seiten des Regimes von Bashar al-Assad eingesetzt wurden. Von dieser Entwicklung profitierten auch die zuvor eher kleineren Milizen Kata’ib Hizbullah und Asa’ib Ahl al-Haqq (AAH), die dank iranischer Unterstützung immer mehr an Bedeutung gewannen.
Sistanis Fatwa
2014 brachte der Kampfbund «Islamischer Staat» IS im Westen und Norden des Iraks grosse Gebiete unter seine Kontrolle und stand zeitweise vor den Toren Bagdads. Insbesondere die schiitische Bevölkerung fühlte sich durch den IS-Vormarsch massiv bedroht. Angesichts der Schwäche der irakischen Armee rief der angesehene schiitische Grossayatollah ʿAlī al-Sīstānī am 13. Juni 2014 die Bevölkerung dazu auf, sich den Sicherheitskräften anzuschliessen. Auf diese Weise sollte der IS zurückgedrängt werden. Während es eigentlich Sistanis Absicht gewesen war, die staatlichen Sicherheitskräfte zu stärken, strömten Freiwillige aber zu tausenden zu den bestehenden und neu gegründeten Milizen. Dies nicht zuletzt, weil die irakische Armee durch ihre schmachvolle Flucht vor dem IS stark an Ansehen verloren hatte.
Ein weiterer Faktor war die Infrastruktur, da die Milizen bereits über ein dichtes Netz an Vertretungen und Rekrutierungsbüros verfügten und so den Ansturm von Freiwilligen besser bewältigen konnten. Spätere Klärungsversuche und Einschränkungen, die durch Sistanis Mitarbeiter vorgenommen wurden und die Grösse und auch die Macht der Milizen einschränken sollten, änderten nichts mehr an deren Popularität.
Organisiert wurden die paramilitärischen Einheiten neu in der PMA (Popular Mobilisation Authority). Diese staatliche Behörde vermochte zwar zu keinem Zeitpunkt die volle Befehlsgewalt über die Einheiten sicherzustellen. Dadurch, dass sie die Verteilung der staatlichen Gelder an die Haschd organisiert, stellt sie aber trotzdem einen wichtigen Machtfaktor dar. Die Gründung der PMA steht zudem für das Bemühen von Premier al-Maliki, die Haschd von den regulären Streitkräften getrennt zu halten und so seinen Einfluss auf die Milizen aufrechtzuerhalten.
Spezialfall sunnitische Haschd
Während Schiiten das Gros der Haschd stellen, haben sich auch viele sunnitische Milizen am Kampf gegen den IS beteiligt. Sie werden meist als Stammes-Haschd (al-ḥašd al-ʿašāʾirī) bezeichnet. Im Jahr 2017 wurde ihr Bestand auf 30- bis 45’000 Kämpfer geschätzt. In den Gouvernements Anbar und Ninive wurden sie unter US-amerikanischer Initiative gebildet, gemäss dem Vorbild der Stammesmilizen, die bereits ab 2007 gegen sunnitische Extremisten eingesetzt wurden und entscheidend zur Befriedung der sunnitischen Gebiete ab 2008 beigetragen hatten. In anderen Provinzen suchten verschiedene Stämme direkt den Kontakt zu den schiitischen Haschd und beteiligten sich in deren Reihen. Von dieser schiitisch-sunnitischen Zusammenarbeit konnten beide Seiten profitieren. Für die lokalen Stämme bot sich die Möglichkeit, die Gebiete zurückzuerobern, aus denen sie vom IS vertrieben worden waren, und sich an konkurrierenden Stämmen, die mit den Extremisten zusammengearbeitet hatten, zu rächen.
Vom Krieg in die Politik
Der Krieg gegen den IS dauerte Jahre, noch immer ist er nicht vollständig besiegt (tatsächlich scheint er sich wieder auf dem Vormarsch zu befinden). Während die Haschd dabei eine tragende Rolle spielten, wurde ihnen auch ihr brutales Vorgehen gegen die sunnitische Zivilbevölkerung in den zurückeroberten Gebieten vorgeworfen. Malikis Nachfolger als Premierminister, Haydar al-Abadi, nahm eine kritische Haltung gegenüber den Haschd ein. So versetzte er sie bei Kämpfen in der Provinz Anbar in die zweite Reihe, und auch bei der symbolträchtigen Rückeroberung Mossuls rückte er die regulären staatlichen Truppen ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Nichtsdestotrotz erfreuten sich die Haschd einer grossen Unterstützung in weiten Teilen der Bevölkerung. Von ihrer Popularität profitierten sie bei den Parlamentswahlen 2018. Wahlsieger war der von Muqtada al-Sadr dominierte Sa’irun-Block, dicht gefolgt von der Fateh-Allianz unter Hadi al-Amiri, die verschiedene iranisch geprägte Milizen repräsentiert. Durch diese Wahlerfolge war die politische Macht nun stärker denn je mit Milizen verknüpft.
Gewalt gegen Demonstrierende
Die Protestwelle, die im Herbst 2019 einsetzte und noch immer anhält, markiert einen Wandel im Irak. Sie betrifft die schiitischen Gebiete, untergräbt also den Repräsentationsanspruch der mächtigen schiitischen Parteien und damit die politische Ordnung seit 2003. Die anfänglich dominierende Kritik am politischen Establishment weitete sich zunehmend auf den iranischen Einfluss und insbesondere die Milizen aus. Es waren denn auch Milizen, besonders Kata’ib Hizbullah und AAH, die gewaltsam gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten vorgingen und für den grössten Teil der mehreren hundert Toten seit Beginn der Proteste verantwortlich sind.
Muqtada al-Sadr stellte sich zunächst auf die Seite der Proteste und dämmte auf diese Weise die Gewalt zeitweise ein. Da es ihm aber nicht gelang, die Kontrolle über die Demonstrierenden zu erlangen und er von ihrer Kritik nicht ausgenommen wurde, wendete auch er sich von ihnen ab. Seine Anhänger waren in der Folge an der Räumung von Protestcamps beteiligt; auch heute noch kommt es, besonders in Nasiriyya, zu Zusammenstössen zwischen Sadristen und Demonstranten.
Premier Mustafa al-Kadhimi, seit Mai 2020 im Amt, stellt sich dagegen explizit auf die Seite der Proteste und verspricht diesen immer wieder Schutz. Er sieht in ihnen eine Möglichkeit, die Macht der etablierten Parteien und Milizen zu brechen. Sein Vorgehen gegen ein Hauptquartier der Kata’ib Hizbullah hätte im Juni 2020 beinahe zu einem offenen Konflikt zwischen Milizionären und Sicherheitskräften geführt. Vieles deutet darauf hin, dass diese Zerreisprobe zwischen Regierung und Haschd nicht abgewendet ist, sondern die irakische Politik auch künftig prägen wird.
Iranischer Einfluss
Oft werden die Haschd als iranische Handlanger oder gar Hilfstruppen dargestellt. Der iranische Einfluss auf die Milizen war und ist aber unterschiedlich. Die Haschd werden meist in drei Hauptgruppen unterteilt, gemäss ihrer primären Loyalität zu Muqtada al-Sadr, Ali al-Sistani oder dem Iran bzw. Ali Khamenei. Damit spiegelt sich in diesen Gruppierungen die Konkurrenz zwischen den drei Haupt-Strömungen, die heute innerhalb der irakischen Schia dominieren.
Die sadristische Mahdi-Armee gründete auf der grossen Anhängerschaft von Muhammad Sadiq al-Sadr, dem Vater Muqtadas, bis zu seiner Ermordung durch das Baath-Regime 1999 einer der bedeutendsten schiitischen Geistlichen im Irak. Muqtada al-Sadr hat denn auch stets den explizit irakischen, gar iran-kritischen Charakter seiner Bewegung betont. Sistani wiederum hat bereits vor einem Jahr den Anstoss gegeben, die Haschd aufzulösen und in die Sicherheitskräfte zu integrieren – ein Prozess, der allerdings noch einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte.
Auf diese Initiative werden vor allem die sistani-treuen Haschd-Gruppen reagieren. Sie ist aber auch ein Signal gegenüber den restlichen Fraktionen, denen auf diese Weise die Legitimation der höchsten schiitischen religiösen Autorität im Irak entzogen wird.
Unter starkem iranischem Einfluss stehen demgegenüber die Badr-Brigaden. Sie wurden von den iranischen Revolutionsgarden und Quds-Brigaden ausgebildet und finanziert, auch heute ist von einer massiven iranischen Unterstützung, insbesondere Bewaffnung, auszugehen. Dasselbe gilt für die Kata’ib Hizbullah und die AAH, den beiden aktuell prominentesten Gruppierungen innerhalb der Haschd.
Kata’ib Hizbullah und AAH
Wenn heute im Irak von «den» Haschd oder «den» schiitischen Milizen die Rede ist, sind damit meistens diejenigen Formationen mit starkem iranischem Einfluss gemeint, besonders die Kata’ib Hizbullah (katāʾib ḥizbullah) und die AAH (ʿasāʾib ʾahl al-haqq). Beide Gruppen haben sich bereits früh von grösseren Organisationen abgespalten: Die AAH waren zunächst Teil der Mahdi-Armee von Muqtada al-Sadr (auch heute betonen sie auf ihren Webseiten noch die Treue zu dessen Vater Sadiq al-Sadr), während die frühen Mitglieder der Kata’ib Hizbullah aus den Badr-Brigaden stammten.
Eine Führungsfigur der Kata’ib Hizbullah war Abū Mahdī al-Muhandis, ein enger Verbündeter Irans und dominierende Figur innerhalb der Haschd-Führung PMA. Unter seiner Leitung setzten die Kata’ib Hizbullah ihre Angriffe auf US-amerikanische Einrichtungen im Irak in den vergangenen Jahren fort. Zusammen mit Qasem Soleimani, Kommandeur der iranischen Quds-Brigaden, wurde Muhandis im Januar 2020 durch einen amerikanischen Luftangriff getötet.
In der Folge bildeten sich kleinere Milizen, die sich auf Angriffe gegen US-Stützpunkte und Infrastruktur spezialisiert haben und von denen anzunehmen ist, dass sie im Namen der grösseren Haschd-Formationen agieren, ohne dass diese direkt für die Angriffe verantwortlich gemacht werden. Eine solche kleinere Einheit ist etwa die Miliz Sarāyā ʾAwlīyāʾ al-Dam, die bei Erbil im Februar 2021 einen Raketen-Angriff auf eine US-Einrichtung durchgeführt hat.
Fusion aus Politik und Militär
Selbst die irannahen Komponenten der Haschd sind aber weit mehr als ein verlängerter Arm Teherans. Zunächst handeln die einzelnen Gruppierungen als durchaus eigenständige Akteure ohne direkte iranische Kommandostruktur. Auch verfügen sie durch die Kontrolle über mehrere Grenzübergänge sowie Strassen-Checkpoints, an denen sie Abgaben erheben, über eigene lukrative Einnahmequellen. Darüber hinaus aber bestehen die Haschd längst nicht nur aus paramilitärischen Einheiten. Ihre Angehörigen besetzen Posten in Politik und Verwaltung, sogar im Parlament stellen sie wichtige Fraktionen.
Darin zeigt sich die Entwicklung, die die Milizen im Irak nach 2003 durchlaufen haben. Zu Beginn klassische «militärische Flügel», gesteuert von Parteien oder religiösen Akteuren, emanzipierten sie sich zunehmend von diesen. Das vorläufige Ergebnis dieses Prozesses stellt die aktuelle Fusion von Politik und paramilitärischen Einheiten dar, wie sie die Haschd charakterisiert: Ein komplexes Netzwerk mit dem Staat, in dem die Haschd einmal staatliche Funktionen übernehmen und mit dem Staat zusammenarbeiten, gar Teil von ihm sind, in anderen Situation dagegen die staatliche Macht herausfordern.
Zugleich definieren die Haschd als militärisch-politische Institution einen neuen Kombattanten-Status, der an den IS erinnert. Der Erfolg dieser Strukturen illustriert die Pluralisierung von Staatlichkeit und die Repräsentationskrise klassischer politischer Parteien, die auf einem klassischen Staat-Volk-Schema basieren.
Die Zukunft des Staates
Statt eines «starken Staates», der seine Hoheitsansprüche im gesamten Territorium per Gewaltmonopol durchsetzt, gehen also Politik und bewaffnete Gruppierungen ineinander über. Staatlichkeit wird von verschiedenen auch nicht- oder substaatlichen Akteuren ausgeübt. Deren Ausgreifen in die Politik lässt sich auch in anderen Ländern der Region beobachten (etwa in Libyen, auch in Syrien scheint dies vermehrt der Fall zu sein). Solche gewissermassen «polito-militärische Fusionen» zeigen damit eine äusserst komplexe Aushandlung dessen auf, was «Staat» überhaupt ist.
Zeichnet sich im Irak gar eine paramilitärische Herrschaft als parallele Struktur zum Zivilstaat ab? Dafür spricht, dass die Haschd entlang dem parastaatlichen Vorbild der Revolutionsgarden moduliert worden sind, die im Iran längst über eine eigene Herrschaftsstruktur mit separaten Wirtschaftsbereichen und sogar Steuern verfügen. Gemäss dieser Deutung steht beim Ringen um die Auflösung der Haschd und ihrer Integration in die regulären Streitkräfte, wie von der irakischen Regierung und Sistani angestrebt, viel auf dem Spiel: Dann ginge es in den kommenden Monaten nicht in erster Linie um die Durchsetzung eines Gewaltmonopols, sondern um die Frage nach der Zukunft staatlicher Herrschaft im Irak überhaupt.