Die Türkei wählt ihr Parlament am 7. Juni. Es geht dabei nicht so sehr um die künftige parlamentarische Mehrheit der AKP. Die Zukunft Erdogans steht auf dem Spiel.
Neue Vollmachten
Erdogan wurde im August des vergangenen Jahres zum Präsidenten der Türkei gewählt. Doch dies geschah unter der bisher gültigen Verfassung, die dem Präsidenten eine mehr zeremonielle Rolle zuschreibt. Haupt der Exekutive ist nach der geltenden Verfassung der Ministerpräsident.
Präsident Erdogan hat seit langem seinen Plan angekündigt, dies zu ändern. Er will die Verfassung so abändern, dass in Zukunft dem Präsidenten, so wie dem amerikanischen, eine exekutive Rolle zukommt und er "seine" Regierung ernennt und anführt. Gleichzeitig würde der Präsident, im Gegensatz zu den USA, wo die Legislative von der Exekutive streng getrennt ist, über seine Partei und deren parlamentarische Mehrheit auch die legislative Macht ausüben.
Angestrebte Verfassungsmehrheit
Um diesen Wunsch zu verwirklichen, muss Erdogan die Verfassung der Türkei abändern. Er und seine Partei können das tun, falls sie in den Wahlen eine Zwei-Drittel-Mehrheit von mindestens 367 Sitzen erlangen. Wenn sie nur eine Mehrheit von 330 Sitzen erhalten, kann die AK Partei ein Plebiszit organisieren, und wenn sie dieses gewinnt, ebenfalls die Verfassung ändern.
Das gesamte Parlament besteht aus 550 Abgeordneten. Zur Zeit hat die AK Partei 327 Sitze inne. Erdogan strebt "mindestens 400 Sitze" an. Er gibt sich siegesgewiss, und er kämpft höchst energisch für seine erhoffte absolute Mehrheit. Ob er sie erreichen kann oder nicht, soll nach dem Dafürhalten der meisten Beobachter und der Veranstalter von Umfragen von zwei Unbekannten abhängen.
Unentschiedene und die Kurden
Erstens: etwa 15 Prozent der bisherigen AKP Wähler gelten als unentschlossen und können möglicherweise ihre Stimme den Oppositionsparteien erteilen. Konservative Kurden pflegten für AKP zu stimmen, sollen jedoch zur Zeit die kurdische HDP begünstigen. Zweitens: die türkischen Kurden sind diesmal, zum ersten Mal, mit einer eigenen Partei in die Wahlen gezogen. Bisher haben sie sich immer damit begnügt, parteiunabhängige Kandidaten in die Wahlen zu entsenden.
Dies hat seine Gründe. In der Türkei gilt eine 10 Prozent Hürde. Parteien, die sie nicht übersteigen, gelangen nicht ins Parlament, und die für sie abgegebenen Stimmen werden proportional unter jene Parteien verteilt, welche die Hürde überwinden und daher ins Parlament gelangen. Dies bedeutet, wenn die Kurdenpartei HDP (für Demokratische Volkspartei) die 10 Prozent Hürde nimmt, kann sie gegen 50 Parlamentssitze erlangen. Wenn sie sie aber verfehlt, werden zwischen 25 und 30 zusätzliche Sitze der AK Partei Erdogans zufallen. In diesem zweiten Fall könnte er möglicherweise die angestrebte zwei Drittel Mehrheit erlangen.
Linke Opposition und Kurden zusammen?
Der Co-Präsident der Kurdenpartei, Selahettin Demirtasch, weiss dass er im besten Fall die Hürde knapp überwinden wird. Er zählt darauf, dass nicht nur Kurden sondern auch Gruppen der türkischen Linken für ihn stimmen werden, die bei den zwei grösseren Oppositionsparteien keine Zugehörigkeit finden. Diese beiden sind die säkulare Partei Atatürks CHP (Republikanische Volkspartei) unter Kemal Kiliçdaroglu, die sich heute etwas links von der Mitte situiert, und die ultra-nationalistische Nationale Aktionspartei (MHP). Die beiden hatten im bisherigen Parlament 135 und 53 der Sitze inne.
Die Wahlprognosen fallen nicht sehr günstig für Erdogans Pläne aus. Die Wahlauguren führen eine lange Liste von Umständen und Entwicklungen auf, die - wie sie vermuten - Erdogan Stimmen kosten werden. Die Wirtschaft geht nicht mer so gut wie in den früheren Jahren: langsameres Wachstum, Inflation, Geldentwertung, abnehmende Investitionen aus dem Ausland. Erdogans Selbstherrlichkeit stösst auf wachsende Kritik. Der Staatschef tritt schon heute so auf, als ob er als allmächtiger Präsident eingesetzt wäre. Er geht über seine konstitutionell beschränkte Rolle weit hinaus, indem er sich auf die Parlamentsmehrheit seiner Partei stützt und Parteimitglieder, über die er völlig verfügen kann, als Ministerpräsident und Minister eingesetzt hat.
Sind die guten Zeiten der AKP vorbei?
Der Riesenpalast, den er sich in Ankara bauen liess, wurde zum Symbol seiner Ansprüche und seiner Selbstherrlichkeit. Eine Hexenjagd auf die Mitglieder der Gülen-Bewegung hat ihm erlaubt, Tausende von Polizisten zu entlassen oder zu versetzen und auch durch ein Gesetz, das seine Partei im Parlament durchbrachte, die Richter in Abhängigkeit von der Exekutive zu bringen.
Gülen und seine Gefolgsleute waren einst Verbündete Erdogans. Sie halfen ihm, die Macht der türkischen Generäle zu brechen. Doch sie wurden dann seine Todfeinde, weil sie Korruptionsvorwürfe gegen ihn und seine Parteimitglieder erhoben. Erdogan reagierte darauf, indem er die Gülen-Bewegung anklagte, sie versuche einen geheimen Staat im Staate zu bilden. Ihre Mitglieder, von denen es keine öffentlich bekannte Liste gibt, gelten Erdogan heute als Verschwörer gegen den türkischen Staat.
Die Presse lebt noch, aber wie lange?
Es gibt noch Zeitungen und Fernsehstationen, die der Gülen-Bewegung nahestehen und sich Kritik an Erdogan erlauben. Doch ist bereits heute klar, dass Erdogan ihnen den garaus bereiten wird, wenn er seine Präsidentenvollmachten erlangt. Zur Zeit - und seit dem vergangenen Februar - befindet sich der Chefredaktor eines Pro-Gülen-Fernsehsenders im Gefängnis unter der eher absurden Anklage, er habe einen von ihm ausgesendete populäre Fernsehserie als Instrument benützt, um den Gülen Anhängern versteckte Weisungen zuzuspielen. Zwei Richter,die dafür stimmten, dass er frei gelassen werde, wurden ihrerseits ebenfalls unter dem Verdacht des Landesverrates eingekerkert.
Spionagevorwurf wegen Enthüllungsvideo
Der Herausgeber der altberühmten Zeitung aus der Zeit Atatürks, Cumhuriet , die der Republikanischen Volkspartei (CHP) , der wichtigsten Oppositionspartei, nahe steht, wurde von Erdogan bedroht, seine Handlungen würden ihm teuer zu stehen kommen. Die Zeitung hatte am vergangenen Donnerstag Aufnahmen von einer seit langem umstrittenen Durchsuchung einer Lastwagenkolonne des türkischen Geheimdienstes publiziert, die nah an der syrischen Grenze im vergangenen Januar durchgeführt wurde.
Die Video Aufnahmen zeigen Kriegsmaterial, das unter einer Schicht von Medizinen verborgen lag. Die Regierung hatte in allen Diskussionen über diese Durchsuchung immer behauptet, es seien nur Medikamente gefunden worden. Ihre Kritiker glaubten zu wissen, es habe sich um Waffenlieferungen an islamistsche Gruppen von Syrien gehandelt. Nach der Veröffentlichung der Bilder wurde gegen den Chefredaktor wegen Spionage Anklage erhoben. Seine Mitarbeiter, die Redaktoren der Zeitung, erklärten darauf öffentlich und auf der ersten Seite ihres Blattes, sie alle kollektiv seien für die Veröffentlichung verantwortlich.
Polemik auf niedrigster Ebene
Es gibt auch "toilet gate", einen aufgeputschten Skandal, der auf eine Wahlrede des Oppositionschefs Kiliçdaroglu zurückgeht. Dieser spielte in einer Rede auf goldene Toilettensitze an, die sich in dem neuen Präsidentenpalast befänden. Woraufhin der Rechtsanwalt Erdogans ihn wegen Verleumdung anklagte und einen Schadenersatz von 100´000 türkischen Pfund (gegenwärtig noch rund 50´000 Dollar) forderte. Erdogan selbst fragte in einer Gegenpolemik, ob der Oppositionschef die Palasttoiletten gesäubert habe und daher behaupten könne, über sie Bescheid zu wissen.
Gewalt gegen die Kurdenpartei
Sehr viel ernsthafter ist, dass die Wahlbüros und Wahlkandidaten der Kurdenpartei mit verdächtiger Häufigkeit angegriffen werden, ohne dass die Polizei viel dagegen unternimmt. Am 18.Mai sind zwei Bomben in den DHP Wahlbüros der Städte Mersin und Adana explodiert. Sie waren in Blumentöpfen versteckt und mit Zeitzündern versehen, die so geregelt waren, dass die Bomben während der geplanten Sitzungen der lokalen Parteivorstände hochgehen sollten. Eine grössere Zahl von Opfern wurde nur vermieden, weil die geplanten Sitzungen verschoben worden waren.
Nach Angaben der Kurden hat es bisher 127 gewaltsame Übergriffe gegen ihre Parteibüros oder Parteiaktivisten gegeben, Dinge wie Messerstechereien, Brandstiftungen, Überfälle auf Automobile, die Parteiabzeichen trugen, jedoch keine Polizeiaktion gegen die Urheber. Die kurdischen Sprecher glauben, es handle sich um Versuche, Sympathisanten ihrer Partei abzuschrecken. Die Bomben sollten ihnen klar machen, dass ein Bürgerkiegsklima entstehen könnte, wenn die Kurden zuviele Stimmen erhielten. Die Täter sind unbekannt. Doch die Kurden glauben, der türkische Geheimdienst stecke dahinter.
Ist Erdogan sein eigener Feind?
Diese, andere Übergriffe und unschöne Aspekte des Machtstrebens Erdogans veranlassen die Wahlauguren zu ihren Prognosen, nach denen die Erfolgschancen des Präsidenten "geringer seien als je zuvor". Doch ihre Meinungen sind mit Vorsicht aufzunehmen. Der Staatschef verfügt über ein gewaltiges Gefolge von Leuten, die seinem handfestem Auftreten zujubeln. Das sind nicht die türkischen Intellektuellen, sondern eher die Massen von früheren Landarbeitern und Tagelöhnern, die heute Millionenweise die Städte bevölkern und deren Einkommen und Lebenssstandart sich in den 14 Jahren der bisherigen Herrschaft Erdogans mindestens verdoppelt, manchmal vervier- und verfünffacht hat.
Gleichzeitig hat Erdogan dafür gesorgt, dass ihr Wunsch nach einer islamisch gefärbten Gesellschaft weitgehend erfüllt wurde und dass die damalige Elite der säkularistischen Staatsbeamten und Bürger, die sich seit der Atatürk Zeit (die 1921 begann) berechtigt glaubten, auf sie als Zurückgebliebene hinabzuschauen, ihre Standesprivilegien verloren. Die Grundfrage bei den gegenwärtigen Wahlen ist, wieviel seiner bisherigen Volkstümlichkeit der Präsident durch sein eigenmächtiges Auftreten während der letzten zwei Jahre in den Augen seiner bisherigen Wählermassen verloren hat und wieviel davon, er sich bewahren konnte. Unter seinen bisherigen Anhängern gibt es mit Sicherheit viele, die weiter auf ihn und seine Verheissungen einer Grossen Türkei setzen. Es ist wohl eher die Minderheit der Intellektuellen, denen die Selbstherrlichkeit des "Sultans" bitter aufzustossen beginnt, möglicherweise nicht, oder noch nicht, die Masse der Wähler.