Die indischen Medien nahmen sie nicht wahr, waren sie doch völlig auf den Hungerstreik von Anna Hazare fixiert, der soeben in einem Triumph geendet hatte. Während zwei Wochen stand die Nation unter Dauerbeschuss der über hundert Nachrichtenkanäle. Die Printmedien hechelten hinterher. Auch sie hatten nur noch Augen und Ohren für den rustikalen Messias der korruptionsgeplagten Mittelklasse. Am 1. September widmete die ‚Times of India‘ dem ‚Team Anna‘ neun von insgesamt 24 Seiten.
Einäugige Medien
Das Sit-In der APDP-Frauen in Srinagar fand keine Erwähnung. ‚APDP‘ steht für ‚Association of Parents of Disappeared Persons‘‚ eine Vereinigung von Müttern und Ehefrauen verschwundener Personen in Kaschmir. Der eigentliche Anlass ihres Sitzstreiks war ein Bericht der staatlichen Menschenrechtskommission des Gliedstaats Jammu&Kaschmir gewesen. Diese hatte am 2. Juli der Regierung in Srinagar ein Dokument über unbekannte Einzel- und Massengräber an 38 Orten der vier Bezirke von Nord-Kaschmir abgeliefert.
Es war ein vertraulicher Bericht, doch ein RTI-Aktivist (‚RTI‘ steht für ‚Right to Information‘) war an den Text herangekommen und hatte dessen Inhalt öffentlich gemacht. Die Naschrichtenagenturen setzten die Neuigkeit in Umlauf, doch die meisten TV-Kanäle konnten damit nichts anfangen. In den grossen Zeitungen des Landes wurde sie immerhin erwähnt. Ich entdeckte den Einspalter in der ‚Times of India‘, am unteren Rand von Seite 12.
Klima der Angst
Dabei hätte die Nachricht eine Balkenüberschrift auf Seite Eins verdient. Denn was diese offizielle Kommission zutage förderte, war erschütternd – und brisant: die Gräber enthielten die nicht-identifizierten Leichen von 2730 Menschen. Die Toten waren, so der Bericht, in den meisten Fällen im Lauf der letzten fünfzehn Jahre von indischen Sicherheitskräften der Dorfbevölkerung übergeben worden, mit dem Befehl, sie zu verscharren; es handle sich um erschossene pakistanische Untergrundkämpfer.
Im Klima von Angst und abgrundtiefem Misstrauen sprach niemand darüber, obwohl jedermann es ahnte: Waren unter den namenlosen Leichen nicht die zahllosen jungen Männer, die bei Nacht-und-Nebel Aktionen der Armee aus ihren Häusern verschleppt worden und seither spurlos verschwunden waren?
8000 Vermisstenmeldungen
Bei einer ersten Identifizierung der noch unverwesten Leichen stellte die Kommission fest, dass über 500 der Männer aus der Region stammten. Bisher waren die Angehörigen immer an eine Mauer des Vertuschens gestossen. Vermisstmeldungen bei der Polizei und Nachforschungen in Armee-Camps waren jeweils mit einer Standarderklärung abgefertigt worden: Die Verschwundenen seien wahrscheinlich in Pakistan untergetaucht.
Dieser Deutung hat sich die ADPD immer widersetzt. Seit vielen Jahren ist sie die einzige lokale Anlaufstelle für Angehörige verschwundener junger Männer, die jede Vermisstmeldung registriert und Nachforschungen anstellt – meist ohne Erfolg.
Ich erinnere mich, 2006 zufällig auf das winzige APDP-Büro gestossen zu sein. Es befand sich am Ende einer langen Veranda im 2.Stock eines Gebäudes in Srinagar, in dem die Anwälte des Obergerichts ihre Kanzleien hatten. Während vor deren Vorzimmern die eine oder andere Person wartete, sassen Dutzende von schwarzgekleideten Frauen vor der Tür am Ende des Gangs. Der Sekretär der APDP erklärte mir, er könne sich des Ansturms kaum erwehren. Schon damals enthielt seine Kartei über 6000 Vermisstmeldungen – inzwischen ist sie auf über 8000 gewachsen.
Die Suche nach einem vermissten Familienmitglied ist selbstverständliche Pflicht einer zivilisierten Gesellschaft. Es ist auch ein natürlicher psychologischer Reflex, um die steigende Panik mit Nachforschungen einigermassen in Schranken zu halten. Falls dann am Ende des Tunnels ein Toter liegt, hat die Familie zumindest Gewissheit – und die Möglichkeit, der Person eine symbolische Bestattung zu geben.
Solange der Mann verschwunden ist, bleibt die Frau rechtlos
Eine solche ist gerade in muslimischen Gesellschaften wichtig, glaubt der Islam doch – wie das Christentum – an die Auferstehung der Toten; aber nur jene werden ins Paradies eintreten, die gemäss den vorgeschriebenen Riten begraben wurden. Jede Bestattung wird daher registriert, jedes Grab mit einem Namen versehen.
Es gibt auch den Zurückgebliebenen einen festen Status zurück, etwa den einer Witwe, der sie zu Zuwendungen der Gemeinde berechtigt. Solange der Ehemann verschwunden bleibt, ist sie rechtlos und erhält keine materielle Unterstützung – sie ist eine „Halbwitwe“. Kaschmir zählt über 1500 ‚Halbwitwen‘, denen der Klerus eine staatliche Witwenpension bisher versagt hat.
Verweigerte Aufklärung
Angesichts der Intransigenz der Mullahs und des Mauerns der Behörden hat die APDP in den letzten Jahren selber mit Ausgrabungen begonnen. Sie hat in zwei Bezirken von Südkaschmir 3844 namenlose Gräber gefunden. Eine andere Organisation, Das ‚International People’s Tribunal on Human Rights and Justice“ (IPTK) hat weitere 2373 namenlose Gräber identifiziert. In sechs Bezirken sind noch gar keine Untersuchungen vorgenommen worden. APDP und IPTK hatten bisher vergebens eine forensische Überprüfung der Identität einschliesslich DNA-Proben gefordert. Nun, mit der quasi-offiziellen Anerkennung einer grossen Zahl namenloser Leichen, muss der Staat handeln.
Damit rückt auch die Frage nach der Verantwortlichkeit für die zahllosen Entführungen (und vermutlich aussergerichtlichen Exekutionen) wieder ins Zentrum. Die indische Armee, die paramilitärischen Verbände und Polizei haben bisher immer behauptet, ‚extrajudicial killings‘ beschränkten sich auf Zuwiderhandlungen einzelner Offiziere, und diese seien von der Militärjustiz bestraft worden.
Aber sie rückt weder mit Zahlen noch den Namen von Tätern heraus, da sie befürchtet, eine öffentliche Diskussion werde die ‚Moral‘ der Soldaten schwächen. In der Regel veröffentlicht sie aber Details über ’Terroristen‘, die aus Pakistan infiltriert sind und ‚im Kampf‘ getötet wurden. Genau diese Statistik legt aber die riesige Dunkelziffer frei, die sich zwischen diesen paar hundert toten ‚Infiltranten‘ und den über achttausend Verschwundenen auftut.
Spezialgesetz für die Armee
Der wichtigste Grund für die mangelnde Transparenz und damit Verantwortlichkeit liegt in einem Gesetz namens ‚Armed Forces Special Powers Act‘ (AFSPA), das in Kaschmir sowie in Nagaland und Manipur im indischen Nordosten seit Jahrezehnten in Kraft ist. Es etabliert ein internes Kriegsrecht, das Armeeangehörige der zivilen Justiz entzieht und ihr in den Augen der Kritiker einen Freipass zum Töten gibt. Bisher hat sich die Regierung in Delhi standhaft geweigert, den AFSPA aufzuheben.
2011 sind es zehn Jahre, dass eine junge Frau aus Manipur, Irom Sharmila, aus Protest gegen dieses drakonische Gesetz im Hungerstreik steht. Sie wird mit IV-Tropfen zwangsernährt. Anfangs August hatte sie an Anna Hazare appelliert, seinen Hungerstreik gegen Korruption in Manipur durchzuführen, denn der AFSPA sei „die schlimmste Korruption – die Korruption der Menschenrechte“. Er sandte ihr einen väterlichen Gruss und blieb in Delhi, bei den TV-Kameras.