Das war zu erwarten. Nachdem Susan Sonntag uns vor über vierzig Jahren zeigte, wie vielfältig man Krankheit als Metapher gebrauchen kann, führen die Kultur- und Medienvirologen derzeit diese Tradition weiter und beschäftigen sich intensiv mit der Tiefendeutung des Coronavirus. Weshalb uns ein Kommentar im Berner „Bund“ von diesem Wochenende auf die Trivialität hinweist, dass das Coronavirus keine Metapher sei. „Einige Intellektuelle“ schlügen Aufmerksamkeitsprofit aus der Pandemie. Diese Virendeuter und verkappten Verschwörungstheoretiker sähen darin weiss der Teufel was und schürten dadurch zusätzlich Angst und Unsicherheit.
Wenn damit gemeint ist, dass wir auf dem Boden der medizinischen und hygienischen Tatsachen bleiben sollten, kann man durchaus zustimmen. Nur ist die Corona-Pandemie kein isoliertes Phänomen. In ihm wirken zahlreiche Faktoren zusammen, medizinische, biologische, gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche, technische, kulturelle. Wir sind also zum Verständnis auf Metaphern und Analogien angewiesen. Und es grenzte an reduktionistische Denkfaulheit, nicht ein paar Überlegungen über die Aktualität hinaus anzustellen – auf die Gefahr hin, nun auch als metaphorischer Virendeuter, sprich: Angstmacher, klassifiziert zu werden.
Herrscherin des Planeten
Ironie ist der aktuellen Lage jedenfall nicht abzusprechen. Das Coronavirus hat uns auf dem falschen Fuss erwischt. Das heisst, es macht schlagartig den Widerspruch zweier dominanter Tendenzen unserer Epoche bewusst: Abschottung und Vernetzung. In einer Zeit, da man auf dem Planeten Mauern und Zäune hochzieht, um die soziale und kulturelle „Ansteckung“ von Menschen zu verhindern, schlüpft die Mikrobe durch Maschen, Ritzen und Poren und „vernetzt“ uns.
Das Virus lebt um uns, es lebt in uns. Es hält sich nicht an die Artengrenzen, springt von Spezies zu Spezies, mobiler als uns das oft lieb ist. Und speziell die Gestalt des Coronavirus ist ja selbst schon eine Metapher: kugelförmig, mit Stäbchen auf der Oberfläche, erinnert es an eine Krone – daher auch der Name. Die Krone aber ist das Sinnbild schlechthin von Macht und Herrschaft. Also krönen wir diese Mikrobe zur Herrscherin über den Planeten – zu einer Herrscherin, die sich zwischen den Arten, ja, zwischen Leben und Nicht-Leben ansiedelt. Sie steht symbolisch für die unberechenbare und unkontrollierbare Macht der Virulenz.
Netzvirulenz
Diese Macht wirkt auch und vor allem im Netz. Gerade das rasante Ausbreiten von Information – das „going viral“ – hat sich zur Leitmetapher entwickelt. Wir kennen die zwei Hauptaktivitäten von Viren: in eine Zelle eindringen und den Zellcode umschreiben zum Zweck der möglichst breiten Replikation des Eindringlings.
Der Vergleich mit dem Netz ist nicht weit hergeholt. Beide Aktivitäten finden wir – analog – auch hier. Im Universum der sozialen Medien sind sie geradezu „Features“. Wenn sich ein Bild, Video oder Text möglichst rasch und weit verbreiten soll, spricht man von „going viral“: Die Information infiziert nicht nur „Zellen“ im Netz (also Nutzer oder Nutzergruppen), sondern schreibt deren „sozialen Text“ um (das heisst Ansichten und Verhaltensweisen). Das Ziel ist letztlich, Einfluss auszuüben, virulente Meinungsherrschaft über andere zu gewinnen, indem man eine möglichst grosse Gefolgschaft „repliziert“.
So gesehen ist das Netz eine monströse virale Maschine zur Erzeugung von Gefolgschaft. Und „going viral“ hat die gleiche Ambivalenz, die wir auch mit den natürlichen Viren assoziieren: Man fürchtet sie, wenn sie sich gegen einen richten; und man begrüsst sie, wenn sie sich gegen andere richten. Auch hier ist die Ironie nicht zu übersehen: Ein Zeitalter, das wie nie zuvor die Vernetztheit als Erlösung von unserer physischen Existenz zelebriert, entdeckt plötzlich deren hässliche Seite: Das „going viral“ von Content im Online hat nun seine böse physische Entsprechung im Offline.
Macht des Zufalls
Das Virus ist zudem Metapher für die Macht des Zufalls. Ob es uns „wohl oder übel gesinnt“ ist, hängt meist vom Zufall ab. So lautet zumindest eine Hypothese, die immer mehr in den Fokus der Forschung rückt. Der Mikrobiologe Bruce Levin hat für sie die derb-eingängige Bezeichnung „Shit-Happens-Hypothese“ geprägt: Die Virulenz von Mikroben ist nicht spezifisch gegen uns Menschen gerichtet, sie „geschieht“ einfach unter besonderen physikalischen, chemischen und biologischen Bedingungen.
Levin hierzu: „Die Parasitologen lehrten uns Studenten, dass Krankheit ein primitives, unterentwickeltes Stadium im Zusammenleben von Organismen darstelle, und die Evolution schliesslich alles zum Netten richten würde, zu Symbiose und Mutualismus als Endpunkt.“ Die Natur kennt aber keine Happy Ends – oder vielmehr: sie kennt unzählige Happy Ends, je nach Artengesichtspunkt. Und der Mensch ist nur eine Art. Wenn ihn die Mikroben etwas angehen – was geht der Mensch die Mikroben an?
Wir entdecken jetzt also nicht eine neue Welt, wie sie sich erstmals dem holländischen Gerätebauer Antoni van Leeuwenhoek im 17. Jahrhundert unter seinem Mikroskop offenbarte; wir entdecken vielmehr uns selbst als Teil dieser Welt. Der wichtigste Teil in der Mikrobenwelt sind aber andere Mikroben. Der Mensch, der zufällig in ihr Kreuzfeuer gerät, hat einfach Kollateralpech.
Strafe der Natur?
Wir neigen in Zeiten von Krisen, Kalamitäten und Katastrophen zu moralisierender Rede. In diesem Sinn vermutet ein Epidemiologe der University of California: „Ich glaube, wir werden mehr Coronaviren auftauchen sehen, weil dies die Folge dessen ist, was wir der Umwelt antun. Es ist unsere Strafe.“ Metaphorische Rede auch hier. Nun kennt die Natur aber keine Strafe.
Die Aussage lässt sich unmetaphorisch so lesen: Wenn der Mensch im Anthropozän immer tiefer in die natürlichen Ökosysteme eindringt, riskiert er dadurch, auch in den Wirkungsbereich von Mikroben zu gelangen, von denen er bisher verschont blieb. Viele Biologen sind der Meinung, dass sich mit dieser fortgesetzten Ausbreitung des Menschen auch die Wahrscheinlichkeit erhöht, von anderen Arten infiziert zu werden. Wir kennen längst solche Krankheiten: Schweinegrippe, Tollwut, Ebola, AIDS, Sars, um nur einige zu nennen. Die Familie der Coronaviren ist seit über fünzig Jahren aktenkundig. Ihre Angehörigen warteten nur auf eine günstige Gelegenheit wie Wuhan.
Total virale Realität
Die Medizin ist voller Metaphern. Und die traditionelle Leitmetapher der Pathologie behandelt den Körper als Schlachtfeld, auf dem alle Eindringlinge als böse gelten und daher auszurotten sind. Aber es gibt seit einiger Zeit andere, weniger isolationistische oder kriegerische Metaphern. Die Biologin Lynn Margulis – Mitschöpferin der „Gaia-Hypothese“ – prägte den Begriff des „Holobionten“ für das Ökosystem, das der Mensch selbst ist. In einem Ökosystem gibt es nicht Schurken und Helden. Es gibt Arten, die ihre spezifischen Rollen spielen. Wir alle bewirten Lebewesen oder Quasi-Lebewesen. Sie sind nicht per se nützlich oder schädlich. Sie sind es unter bestimmten Umständen, und wir wissen in einer zusehends komplexeren Welt viel zu wenig über diese Umstände.
Dieses Nichtwissen macht die Mikroben unheimlich. Und mit Metaphern suchen wir diese Unheimlichkeit etwas vertrauter – sprich: anthropomorpher – zu machen. Aber wir müssen mit ihr leben, das heisst, die wirkliche Bedeutung des Begriffs „Vernetzung“ wieder lernen: Wir sind tatsächlich nicht nur immateriell, sondern materiell durch unsere physische Existenz vernetzt – bis hin zu den Einzellern. Das ist die dramatisch triviale Lektion des Coronavirus: Die Realität, in der wir leben, ist total viral. Und das muss man buchstäblich verstehen, nicht metaphorisch.