Putin ist 70 Jahre alt. Er hat sich seine Geburtstagfeier wohl anders vorgestellt. Der Kreml-Herrscher ist zu einer tragischen Gestalt geworden. Schon wird er mit Spott überhäuft – und das ist das Schlimmste, was einem Machtmenschen passieren kann.
Seine Streitkräfte befinden sich in einem jämmerlichen Zustand. Die hochmotivierte ukrainische Armee rückt weiter vor. Täglich erobert sie im Osten und Süden des Landes Dörfer und Städte zurück. Der Fall von Isjum, Kupjansk Balakljia, Lyman und anderer Städte in den Oblasten Charkiw, Luhansk und Donezk stellen einen dramatischen Imageverlust für Putin dar. Und jetzt wird sogar Cherson bedroht.
Viele russische Soldaten, von Panik erfasst, irren herum und fallen teils in die Hände der Ukrainer. «Panik auf der Titanic», twitterte ein russischer Soldat zynisch.
Die russischen Streitkräfte verfügen über Material, das teils aus den Fünfzigerjahren stammt. Sogar Fahrzeuge, die im Zweiten Weltkrieg im Einsatz waren, wurden gesichtet. Viele Armee-Angehörige leben unter «absolut unmenschlichen Bedingungen», heisst es in einem Video russischer Soldaten. Oft fehle es an Nahrung, Helmen, Schutzwesten und Schlafsäcken. Die meisten Soldaten seien militärisch nicht ausgebildet. Sie wüssten nicht, zu welcher Einheit sie gehörten.
Die Führungsstruktur ist chaotisch – und im Zuge des überraschend schnellen ukrainischen Vormarsches wird sie immer chaotischer. Man weiss offenbar nicht, wie man reagieren soll. Panik auch hier.
Abgehörte Telefongespräche, die von der New York Times ausgewertet wurden, beweisen, dass Putins Soldaten ganz und gar keine Lust haben, für ihn zu sterben. Sie verspotten den Kreml-Chef, sie hassen ihn. Hunderttausende sind geflüchtet: nach Georgien, Finnland, Kirgisien, Kasachstan, in die Türkei. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow dementierte, dass es 700’000 seien, doch eine andere Zahl konnte er nicht nennen.
Zum Schlimmsten für Putin gehört, dass im Kreml ernsthafte Meinungsverschiedenheiten ausgebrochen sind. Nach sehr glaubhaften Berichten ist man gar nicht mehr überzeugt, dass man diesen Krieg gewinnen kann. Generäle werden ausgetauscht, andere werden von anderen offen kritisiert. Auch der Chef der berüchtigten Wagner-Miliz ist mit der Kriegsführung gar nicht mehr glücklich. Wladimir Solowjow, der russische Fernsehmoderator, fragte vielsagend: «Bitte erklären Sie mir, was für eine geniale Idee der Generalstab jetzt hat. Glauben Sie, die Zeit ist auf unserer Seite?»
Kiril Stremousow, der von Russland eingesetzte stellvertretende Verwaltungsleiter von Cherson, wirft den «Generälen und Ministern» in Moskau vor, die Probleme an der Front nicht zu verstehen.
Dass Putin einen «Super-Brutalo» wie den Tschetschenienführer Ramsan Kadyrow zum Generaloberst befördert, zeigt, wie verzweifelt der Kreml-Despot ist. Vor allem aber zeigt die Ernennung, dass es der Armee an fähigem Führungspersonal mangelt. Angesprochen auf die Missstände wirkt Kreml-Sprecher Peskow zunehmend nervös und ungehalten. Das Nonverbale, seine Gestik und Mimik, seine gepresste Stimme, sprechen Bände.
Es folgen Flop auf Flop. Die Rekrutierung neuer Kräfte erfolgte willkürlich und verworren. Alte Männer, Behinderte und sogar Tote wurden aufgeboten.
Die Annexion der Oblaste Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja ist ein Schlag ins Wasser. Man annektiert Gebiete, die man eben verloren hat. Dass Putin diese Annexion mit grossem Pomp feiert, zeigt, dass er nicht mehr viel vorzuweisen hat.
Und noch etwas muss Putin einstecken. Er hatte geglaubt, mit seiner Invasion würde er das ukrainische Volk spalten. Das Gegenteil trat ein. Die Ukrainer und Ukrainerinnen stehen zusammen Schulter an Schulter – geeint wie nie. Der aufopfernde Beitrag der ukrainischen Zivilgesellschaft, die beispiellose Solidarität, hat viel zu den ukrainischen Erfolgen auf dem Schlachtfeld beigetragen. Man könnte es zynisch sagen: Putin hat das «nation building» der Ukraine massiv vorangebracht – eine Nationenbildung, die sich noch lange auswirken wird.
Trotz der Blamage, die die Russen auf dem Schlachtfeld erleiden: Natürlich ist es zu früh, um von Putins Waterloo zu sprechen. Der ukrainische Präsident Wolodimyr Selenskyj hat recht, wenn er sich mit Euphorie-Kundgebungen zurückhält. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die russische Armee wieder sammelt und mit zusätzlichen Kräften eine erfolgreiche Gegenoffensive starten kann. Zum jetzigen Zeitpunkt allerdings deutet nichts darauf hin. Sicher wird Russland ab und zu Erfolg haben, wie am Donnerstag im Weiler Sajzewe. Aber das berühmte «Momentum» ist aufseiten der Ukrainer. Die Russen sind arg in der Defensive, ihre Moral ist im Keller, Tag für Tag werden sie gedemütigt. «Für Moskau stehen die Vorzeichen nicht gut», erklärt die BBC.
Was tut Putin in dieser verzweifelten Lage? Er droht mit Atomwaffen und versucht im Westen Panik zu säen. Das gelingt zum Teil. «Soll man», heisst es schon, «dem Kreml-Chef nicht ein Stück Ukraine geben, um so einen Atomkrieg zu vermeiden?» Man vergisst dabei, dass Putin dann gestärkt wäre und sofort weitere Forderungen stellen würde. Der Krieg wäre mit Sicherheit nicht zu Ende. Der Kreml-Diktator hat klar gemacht, dass er, der Nachfolger von Peter dem Grossen, die ganze Ukraine will.
Ein Machtmensch wie Putin krebst nicht zurück. Er ist zu weit gegangen und wird wohl bis zum Letzten gehen. Doch was ist dieses Letzte? Atomwaffen? Zum ersten Mal seit der Kubakrise 1962 sprechen führende russische Politiker explizit nukleare Drohungen aus.
Sicher muss man dies ernst nehmen. Doch der Einsatz taktischer Atomwaffen birgt viele Risiken, auch für Putin. Würde die russische Armeeführung einen solchen Einsatz geschlossen gutheissen? Wie würde das russische Volk reagieren? Putin hat zwar die Staatsmedien unter Kontrolle, doch die letzten Tage haben gezeigt, dass die russische Bevölkerung immer mehr auf dem Laufenden ist, was in der Ukraine wirklich geschieht – sonst würden, auch in der fernen Provinz, nicht Zehntausende fliehen. Und dass sie es tun, zeigt, dass im Volk eine wenig kriegsbegeisterte Stimmung herrscht. Bilder zeigen apathische junge Männer, die rekrutiert wurden und von ihren Frauen und Freundinnen pathetisch und tränenreich verabschiedet werden. Abschied für immer?
Gegen wen sollten atomare Sprengsätze eingesetzt werden? Würden sie eine Wende im Krieg bringen? Amerikanische Kriegsanalysten weisen darauf hin, dass die Ukrainer bei ihren Angriffen in kleinen, verstreuten Verbänden vorrücken. Mit einem atomaren Angriff würden die Russen also nur wenige treffen. «Man kann den Krieg mit taktischen Atomwaffen nicht gewinnen», sagen amerikanische Militärstrategen.
Die ganz grosse Frage ist natürlich: Wie würde der Westen, die USA, Grossbritannien, auf einen russischen Einsatz von taktischen Atomwaffen reagieren?
Sicher ist: Das Pentagon und das britische Verteidigungsministerium wären von einem solchen Einsatz nicht überrumpelt. Sie wüssten sehr genau, wie sie reagieren würden. Man hatte Zeit, sich vorzubereiten. Seit Monaten werden Planspiele durgespielt, werden Szenarien erörtert. Putin hofft vielleicht, die USA würden überhastet reagieren, wie beim amerikanischen Abzug in Kabul. Doch vor dieser Illusion sollte er sich hüten. Im amerikanischen und britischen Verteidigungsministerium sitzt die Crème de la Crème bestausgebildeter Militärstrategen. Sie wissen, was sie tun. Und was sie – im Falle eines Falles – tun würden, könnte Putin gar nicht gefallen.