Gewalt gelangt so lange nicht an die Oberfläche, wie es andere Möglichkeiten gibt, gegensätzliche Ansprüche und Interessen auszugleichen. Das beste Beispiel dafür ist der moderne Wohlfahrtsstaat, der soziale Konflikte mittels Transferleistungen entschärft.
Beschädigtes Selbstbild
Das Selbstbild speziell der deutschen Gesellschaft klammert Gewalt aus. Gewaltfreiheit ist die Raison d’Être Deutschlands, denn der deutsche Staat definiert sich in Abgrenzung von seiner dunklen Vergangenheit. Zwar rückte das Gewaltthema im Zusammenhang mit internationalen Kriegen und dem militärischen Engagement Deutschlands näher, aber es war noch nicht beherrschend. Auch rechten Terror konnte man noch als Unfall verstehen, der die Gesellschaft im Prinzip intakt liess.
Mit den Flüchtlingen ist das jetzt anders. Ihre grosse Zahl schafft prekäre Verhältnisse. Die Beschwörungsformel der Bundeskanzlerin Angela Merkel, „Wir schaffen das“, ist nicht, wie oft gesagt, ein Ausdruck buchstäblich grenzenloser Naivität, sondern Ausdruck der Verzweiflung. Denn wenn „wir es nicht schaffen“, steigert sich die Gewalt ins Grenzenlose. Das Selbstbild der Gesellschaft wird mehr und mehr beschädigt.
Kampf um Ressourcen
Die Gewalt ist umgekehrt proportional zu den Ressourcen. Je knapper sie sind, desto härter die Kämpfe. Nicht nur, aber auch um ihre Ressourcen zu schützen, ziehen Staaten Grenzen. Je stärker der Druck auf die Grenzen, desto stärker die Befestigungen. Merkel weiss, dass das jetzt nicht funktionieren kann. Jedenfalls lassen sich die Grenzen zumindest im Süden Europas nicht befestigen. Nur Gewalt kann Menschen an ihrer Überwindung hindern.
Dadurch entsteht ein doppeltes Gewaltdilemma: Der Zustrom nach innen provoziert inländische Gewalt, die Absperrung nach aussen geht nur gewaltsam. Methoden der Abschreckung durch miserable Bedingungen in den Grenzregionen werden nicht genügend Fluchtwillige aufhalten.
Das Gewaltdilemma
Wenn sich die Zahlen der Flüchtenden weiter wie bisher entwickeln, liefe die gewaltsame Absperrung der südlichen Grenzen auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder sogar Völkermord hinaus. Jedenfalls müssten die Verantwortlichen damit rechnen, dafür vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gebracht zu werden.
Umgekehrt wird die Situation im Inland ebenfalls mehr Gewalt mit sich bringen, denn es sind ja nicht nur Dumpfbacken, Pack oder ein sowieso unzurechnungsfähiger Mob, die jetzt über die Stränge schlagen. Man darf nicht unterschätzen, wozu verängstigte Bürger nach und nach fähig sind. Deutschland kann ein Lied davon singen. Zudem kann jeder wissen, dass längere Zwangsaufenthalte in Flüchtlingslagern nicht unbedingt zur Friedfertigkeit der Asylsuchenden beitragen. Gewalt wird also gleich mehrfach gezüchtet.
Wiedergänger der Kolonialgeschichte
Die Beschwörungsformel, „Wir schaffen das“, weist keinen Ausweg aus dem Gewaltdilemma. Sie ist eher der typisch Merkelsche Versuch, sich an das Bestehende zu klammern und irgendwie schlingernd die Probleme zu umschiffen. Das kann man ihr vorwerfen, aber gibt es jemanden, der eine Lösung anzubieten hätte?
Das alles ist erschreckend, aber es ist auch verstörend, erkennen zu müssen, dass die sich selbst so friedlich wähnenden Gesellschaften des Westens in eine Situation gekommen sind, in der ihre lange Zeit verdeckte Seite der Gewalt wieder hervortritt. Denn die dunkle Seite des Westens ist die Kolonialgeschichte und die ihr folgende Politik. Wir erleben jetzt die Wiederkehr des Verdrängten in Gestalt zahlloser Flüchtlinge.
Mut der Verzweiflung
Diese Wiederkehr lässt sich nicht einfach stoppen. Die Gewalt, die jetzt aufbricht oder aufzubrechen droht, hat ihre Wurzeln im Kampf um die weltweiten Ressourcen, den Europa und Amerika jahrhundertelang ohne grosse Skrupel geführt haben. Europa hat geglaubt, sich einige Zeit von diesem Kampf ausruhen zu können, ihn quasi hinter sich zu lassen, weil dieser Kampf immer raffinierter und subtiler wurde: Terms of Trade, Weltbank, Geheimdienstaktionen. Die Gewalt verschwand aus dem Blickfeld wie die Schlachthöfe hinter appetitlich präsentiertem Fleisch.
Jetzt sind wir am Ende dieser Subtilität. Die Gewalt breitet sich im Inneren Deutschlands aus, und wenn der Staat seine äusseren Grenzen nicht wirksam verschliesst, wird er auch im Inneren die Kontrolle verlieren. Die Kanzlerin will keine Gewalt. Man kann ihr nur Mut attestieren: den Mut der Verzweiflung.