Am 19. September attackierten die Truppen Aserbaidschans die Region Bergkarabach mit ihren 120’000 armenischen Bewohnern. Die Behörden Armeniens zählen bereits fast hunderttausend Karabach-Flüchtlinge. Bereits haben 70 Prozent der Bevölkerung der 4’400 Quadratkilometer grossen Region die Flucht ergriffen (Stand: Samstag)
Politiker und Politikerinnen in westlichen Ländern appellieren nun an die Regierung Aserbaidschans, sie müsse eine internationale Beobachtermission zulassen – die Abgesandten aus Westeuropa sollen überprüfen, ob die (dann aber vielleicht nicht mehr in Karabach lebenden) Menschen von den Eroberern menschlich behandelt werden – oder nicht. Die Regierung in Baku beteuert, ja, die Armenierinnen und Armenier der Region hätten nichts zu befürchten.
Erinnerungen an Genozid und Flucht
Aber in der Hauptstadt von Bergkarabach, in Stepanakert, und in den Ortschaften der umliegenden Gebiete glaubt das praktisch niemand. Zu gravierend wiegen die Erfahrungen der Vergangenheit. Die Armenierinnen und Armenier verweisen auf die entsetzlichen Opferzahlen der früheren Konflikte mit Aserbaidschan: Tausende, ja, zehntausende Tote als Folge der Konflikte seit den 1990er Jahren, mindestens 200’000 Menschen, die in die Flucht getrieben wurden, sagen sie. Und das sei ausgerechnet dem armenischen Volk angetan worden, das schon 1915 – damals von Türken – durch einen Genozid dezimiert wurde. Und das in der Folge des Taktierens der Grossmächte in den 1920er Jahren gezwungen worden sei, in einem kleinen Rumpfstaat (knapp 30’000 Quadratkilometer) zu leben.
Das alles stimmt – und für den aktuellen, den neuesten Akt der Tragödie wird zu Recht der autoritär herrschende Staatschef Aserbaidschans, Ilham Aliyev, verantwortlich gemacht. Im Wissen, dass seine Armee den armenischen Milizen in Bergkarabach haushoch überlegen ist, befahl er den Angriff. Aliyev kalkulierte wohl auch, dass Putins Russland, theoretisch Garantiemacht für Armenien, keinerlei Lust hat, sich im Kaukasus über das traditionelle Ausmass hinaus (Stationierung einer circa 2’000 Mann starken so genannten Friedenstruppe) zu engagieren. Den Angriff rechtfertigte Aliyev mit wenigen Worten: Bergkarabach gehöre territorial zu Aserbaidschan, das habe nicht nur die frühere Sowjetmacht so bestimmt, sondern das sei auch durch die internationale Gemeinschaft so bestätigt worden.
Entschuldigungen statt Lösungen
Allerdings: Alles ist etwas komplizierter. Es ist so kompliziert, dass die internationale Gemeinschaft immer nach Entschuldigungen dafür suchen konnte, sich nicht festzulegen. Selbst als die drei Kaukasus-Länder (Georgien, Armenien, Aserbaidschan) in den Europarat aufgenommen wurden, gab es keine Debatte über den für Bergkarabach wünschenswerten Status. Man liess alles in der Schwebe – das sollte sich später bitter rächen.
Laut internationalem Recht ist Bergkarabach Teil von Aserbaidschan, aber deren Bewohner sollten, so wollte es schon ein Dekret des Sowjetherrschers Stalin, eine Autonomie erhalten, die auch diesen Namen verdienen würde. Das geschah nie, jedenfalls nicht aus der Perspektive der armenischen Bevölkerung des Gebiets. Also proklamierten sie, die Karabach-Armenier, 1994 ihre staatliche Unabhängigkeit. Die wurde allerdings international nie anerkannt, nicht einmal Armenien, die Schutzmacht der Karabach-Bevölkerung, entschloss sich zu diesem Schritt. Aber der – nirgendwo in einem Dokument fest gehaltene – Konsens der internationalen Gemeinschaft lief auf die Erwartung hinaus, dass Aserbaidschan den Status quo nicht mit Gewalt verändern würde.
Aber wie genau sah dieser Status quo aus? Die Region Nagorni Karabach ist gemäss allgemeiner Darstellung, wie erwähnt, circa 4’400 Quadratkilometer gross. Umgeben ist sie vom Staatsgebiet Aserbaidschans, verbunden mit dem «Mutterland» Armenien durch den so genannten Latschin-Korridor (eine im Verlauf der Jahre immer besser ausgebaute Strasse). So wird allerdings nur ein Teil der Fakten erfasst – denn in den neunziger Jahren eroberten armenische Truppen von Aserbaidschan zusätzlich etwa 6’000 Quadratkilometer in der weiteren Umgebung des Karabach-Kerngebiets. Gerechtfertigt wurde das mit der Notwendigkeit, um Karabach herum einen «cordon sanitaire» zu schaffen, als Schutz gegen die Truppen Aserbaidschans. Die bis dahin dort lebende Azeri-Bevölkerung wurde vertrieben, und das nicht in kleinem, sondern in erschreckend grossem Ausmass. Zwischen 200’000 und 300’000 Menschen wurden zu Flüchtlingen. Es gibt also nicht nur armenische Opfer des sinnlosen Konflikts, sondern auch aserbaidschanische. Aserbaidschan wies immer wieder darauf hin, dass es 14 Prozent seines Staatsgebiets durch den Konflikt verloren hat – und liess nie einen Zweifel an seiner Entschlossenheit, diese Gebiete eines Tages zurückzuholen.
Kirchen, Klöster und Moscheen
In Armenien wurden die Warnsignale fast drei Jahrzehnte lang ignoriert. Die verschiedenen Regierungen in Eriwan waren von ihrer eigenen Stärke überzeugt. Politiker aus Karabach wie Robert Kotscharian (Ministerpräsident Armeniens von 1997 bis 1998, danach während zehn Jahren Staatspräsident) und Sersch Sargsjan (Staatspräsident Armeniens zwischen 2008 und 2018) bestimmten in einem autoritären (und korrupten) System den Ton. Irgendwelche Kompromisse mit dem Regime in Baku verweigerten sie. Und was Bergkarabach betrifft, wiesen sie – wie übrigens auch fast jeder Armenier – weiterhin darauf hin, dass schon die schiere Anzahl von Kirchen und Klöstern der armenisch-apostolischen Glaubensgemeinschaft beweise, dass muslimische Azeri auf diese Region keinen Anspruch erheben könnten: Mehr als 80 armenische Klöster auf den 4’400 Quadratkilometern des Kerngebiets, nochmals etwa gleich viele in jenen Regionen, welche die armenische Armee in den neunziger Jahren von Aserbaidschan erobert hat.
Das entspricht zwar der Wahrheit, aber es gibt auch noch eine andere Seite der Medaille dieser Wahrheit: Früher standen in vielen Ortschaften und Städten auch Moscheen der muslimischen Azeri. Gut dokumentiert sind beispielsweise muslimische Prozessions-Traditionen in Schuscha, im zentralen Bereich von Bergkarabach. Nachgewiesen ist auch, dass in Agdam, einer in den neunziger Jahren von der armenischen Armee eroberten Stadt, nicht weniger als 30’000 Azeri lebten – von ihren Moscheen gibt es keine Spuren mehr. Aus armenischer Perspektive gibt es davon keine Zeugnisse – so wenig, wie es, spricht man mit Azeri, Zeugnisse für die armenische Geschichte in der Region gibt. Der britische Publizist Thomas de Waal, Autor des auf Bergkarabach fokussierenden Buchs «Black Garden» (es wurde leider nie auf Deutsch übersetzt), äusserte: «In diesem Konflikt geht es nicht nur um aktuelle Politik, sondern auch um Identität. Es geht um die Vergangenheit. Es geht um Zugehörigkeit, um Loyalitäten.» Gegenüber Journalisten des Deutschlandfunks sagte de Waal: «Wenn Sie bestimmte von Armeniern geschriebene Geschichtsbücher über Aserbaidschan lesen, dann gibt es diesen wirklich bemerkenswerten Effekt: Sie können das ganze Buch lesen und glauben, es würde Aserbaidschan nicht wirklich geben. Das Land sei eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, und jeder, der vorher dort gelebt habe, sei ein turkstämmiger Nomade. So wird ein wichtiger historischer Abschnitt in Gänze geleugnet.»
Letzter Akt der Tragödie?
In Aserbaidschan wird, umgekehrt, die armenische Geschichte in der Region noch konsequenter geleugnet – wo immer man auf dem Gebiet Aserbaidschans eine Kirche der Armenier sieht, wird diese als Architektur der Albanier bezeichnet – einer (übrigens christlichen) Ethnie, die bis etwa zum 6. Jahrhundert grössere Teile der östlichen Kaukasus-Region besiedelte. Wie gegensätzlich die Sichtweisen sind, zeigt sich auch daran, dass jede Stadt, jede kleine Siedlung zwei Namen hat, einen armenischen und einen azerischen. Stepanakert nennen die Aserbaidschaner Chaukendi, Martakert heisst Agdere. Und so weiter und so fort.
Aber muss alles immer so weiter gehen? Ist der Exodus der armenischen Bewohner von Bergkarabach der letzte Akt der Tragödie? Es wirkt wohl wie Schwarzmalerei, aber entspricht leider der voraussehbaren Entwicklung: Aserbaidschan fordert nun von Armenien die Zustimmung zur Errichtung eines Transitkorridors zu seiner Exklave Nachitschewan, südwestlich von Armenien, angrenzend an die Türkei gelegen. Der armenische Premier, Nikol Paschinjan, Regierungschef seit 2018 (in der Folge der sogenannten samtenen Revolution, die die korrupten Regime von Sargschian/Petrosian hinwegfegte) hat dieser Forderung schon im Vertrag mit der Regierung von Baku im Jahr 2020, nach dem verlorenen Krieg, zustimmen müssen. Praktisch würde/wird das bedeuten: Armenien muss eine exterritoriale Strasse, möglicherweise auch eine Bahnlinie durch einen Teil seiner südlichen Region akzeptieren. Ob dieses Projekt nicht dazu führen würde, dass Armenien den eigenen Zugang zur Grenze Irans verlieren würde, ist fraglich.
Der letzte Akt im Drama zwischen Armenien und Aserbaidschan ist noch nicht geschrieben.