Weitgehend machtlos sei das ungarische Parlament gewesen, in der österreichisch-ungarischen Monarchie etwa habe die Krone fast alle Macht auf sich vereint. Mit dieser Aussage beginnt Heiko Flottau seinen Artikel über Ungarn. Um dann einige Zeilen später zu schreiben, Kroatien sei in der Doppelmonarchie von Budapest aus regiert worden. Zwischen den beiden Feststellungen besteht wohl ein Widerspruch, noch schlimmer aber ist, dass beide Behauptungen falsch sind.
Blick zurück auf die Doppelmonarchie
In der Doppelmonarchie, wie sie nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 bestand, waren die beiden Reichshälften in ihren inneren Angelegenheiten weitgehend frei. Die gemeinsamen Angelegenheiten, Finanzen, Aussenpolitik und das Militärwesen, wurden von „k. und k.“ Ministerien verwaltet, die nicht zur österreichischen Regierung gehörten. Von den drei Ministern war zumindest einer stets ein Ungar. Richtig ist, dass die Organisation und die Führung der Armee zu den Kompetenzen des Herrschers gehörten, und es trifft ebenso zu, dass der Kaiser und König eine etwas grössere Macht besass als ein heutiges, demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt. So unterzeichnete er nicht nur die Gesetze, sondern ihm stand auch zu, Gesetzesentwürfe zu prüfen und zur parlamentarischen Behandlung zuzulassen.
Das ungarische Parlament war indessen sehr wohl ein Machtfaktor; seinen Versuch etwa im Jahr 1912, die militärischen Kompetenzen des Königs zu einzuschränken, konnte Franz Joseph nur durch die Drohung vereiteln, vom Thron abzudanken. Was wiederum Kroatien betrifft: Budapest seinerseits schloss 1868 mit Zagreb einen Ausgleich, der die kroatische Seite zwar bei weitem nicht befriedigte, Kroatien jedoch die Selbstverwaltung in der Gesetzgebung, die Wahrung der inneren Angelegenheiten, die Anerkennung des Kroatischen als Amtssprache und eine eigene Regierung zugestand. Der Banus, der Stellvertreter des Königs in Kroatien, wurde allerdings auf Vorschlag des ungarischen Ministerpräsidenten ernannt, und es gab in der Tat unstatthafte ungarische Einmischungsversuche.
Ungarische Minderheiten im Ausland
Heiko Flottau erwähnt sodann Ungarns Territorialverluste nach dem Ersten Weltkrieg, ohne darüber zu sprechen, dass im verstümmelten Mutterland acht Millionen Magyaren verblieben, drei Millionen ethnische Ungarn aber abgetrennt und in den Nachbarländern zu Minderheiten wurden. Dies ist bis zum heutigen Tag ein ungarisches Trauma, zumal die Zahl der Ungarn in Rumänien, Serbien, der Slowakei und der Karpato-Ukraine durch Assimilation und Auswanderung gerade in letzter Zeit rapid abnimmt und die Nachbarstaaten die ungarischen Siedlungsgebiete sehr bewusst ständig auflockern und verkleinern. Solche Fakten gehören zum Bild, wenn man über den ungarischen Nationalismus spricht.
Folgen wir nun Flottaus Artikel Punkt für Punkt. Der Friedensvertrag von Paris wurde 1947, nicht 1946 unterzeichnet. Das ungarische Parlament wurde nicht 1989 „erstmals Herr der Geschicke Ungarns“, die ersten freien Wahlen nach der Wende fanden 1990 statt, abgesehen davon, dass das Parlament auch in der Zwischenkriegszeit sehr wohl funktioniert, im Sommer 1941 etwa unseligerweise die Kriegserklärung gegen die Sowjetunion gebilligt hatte. Flottau sagt, der heutige Regierungschef Orbán mit seiner Zweidrittelmehrheit stehe einer „Räterepublik“ vor. Schmeichelhaft für die verblichene UdSSR. Die letzten Wahlen in Ungarn waren frei und fair; die nächsten finden im Frühjahr 2014 statt.
Kadars Rolle, Orban und die Wende
Die Stadt Miskolc schreibt sich mit „k“, nicht mit „c“, sie ist ausserdem der slowakischen Grenze wesentlich näher als der ukrainischen, wohin Flottau sie verlegt. János Kádár liess Privatinitiative erst in der Schlussphase seiner Herrschaft zu, als dem – von ihm hoffnungslos in die Auslandsverschuldung getriebenen – Land die Staatspleite drohte, und der Spruch „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns“ fiel erst 1962; zuvor kam es als Vergeltung für den Aufstand von 1956 zu Hunderten von vollstreckten Todesurteilen und Tausenden von Kerkerstrafen. Es gab in Ungarn 1989 in der Tat keine Montagsdemonstrationen nach Leipziger Muster, aber das Werk der Kommunisten allein war die Wende von 1989 nicht.
Gegen Ceauşescus Pläne zur Dorfzerstörung gingen in Budapest bereits 1988 Hunderttausende auf die Strasse, über hunderttausend Menschen nahmen an der regimefeindlichen Kundgebung am 15. März 1989 teil, und ähnlich viele waren zugegen bei der Ausrufung der Republik am 23. Oktober 1989. Und eine charismatische Figur, wie man zum Mann auch immer stehen will, brachte die Wende sehr wohl hervor: den damals 26-jährigen Viktor Orbán. Dies dank dessen Rede am 16. Juni 1989 bei der Neubestattung Imre Nagys, des 1958 hingerichteten Ministerpräsidenten der Revolutionsregierung von 1956; auch an dieser Trauerfeier nahmen Hunderttausende teil.
Horthy nicht geflüchtet
Sodann: Interessant, dass Flottau beim Wort „Banken“ gleich die Schweiz einfällt, aber diesmal liegt er falsch; Schweizer Banken sind in Ungarn praktisch nicht präsent. Orbán ist zwar tatsächlich in Székesfehérvár geboren, einer Stadt, die im Gegensatz zu Flottaus Behauptung eher industriellen denn ländlichen Charakter hat, aufgewachsen ist er aber im Dorf Alcsút. Sodann sind gewisse Minimalkenntnisse doch Bedingung einer politischen Analyse: Der Name von Orbáns Partei – Fidesz – steht als Abkürzung nicht für „Ungarische Zivile Bürgerunion“, sondern für „Bund der jungen Demokraten“. Und Orbán wurde zum ersten Mal bereits 1998, nicht erst 2010 zum Ministerpräsidenten gewählt.
Sodann nochmals die Geschichte: Die rechtsextrem-rassistischen Pfeilkreuzler erschossen Anfang 1944 keine Juden und niemanden; ihren Terror entfalteten sie erst im Spätherbst des gleichen Jahres. Trotz diskriminierenden Gesetzen schützte nämlich Ungarn im wesentlichen seine Juden bis Ende März 1944; die Züge nach Auschwitz begannen erst zu rollen, nachdem das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt worden war. Horthy, der Reichverweser, war vor den Deutschen, anders als Flottau schreibt, keineswegs geflüchtet – hätte er es doch getan und wie Beneš in London eine Exilregierung gebildet! Nein, Horthy blieb auch unter deutscher Besetzung im Amt.
Zuletzt allerdings rettete er nicht einzig 1700 Juden, wie Flottau es wissen will, sondern schritt erfolgreich gegen die Absicht ein, die rund 200 000 Juden der ungarischen Hauptstadt zu deportieren. Womit er allerdings auch bewies, dass er in den Monaten zuvor, als die Juden auf dem Land deportiert wurden, auch schon hätte handeln können.
Ungarns Reaktionen auf EU-Einwände
Die unlängst erhobene, von Flottau zitierte Forderung eines Vertreters der extremistischen und 2010 leider ins Parlament gelangten Partei Jobbik, israelisch-ungarische Doppelbürger unter den Abgeordneten und – was Flottau nicht mehr sagt – auch innerhalb der Regierung Orbán zu registrieren, ist, kein Zweifel, eine Schande. Flottau hätte indes hinzufügen dürfen, dass die Äusserung eine Protestkundgebung zur Folge hatte, an der auch der Fraktionsführer von Fidesz, Antal Rogán, zu den Rednern gehörte.
Als Beleg für den „neuerlich wieder belebten Antisemitismus“ dient Flottau die vor kurzem in Budapest abgehaltene Jahrestagung des Jüdischen Weltkongresses, dessen Präsident, Ronald Lauder, Kritik an Orbán übte. Hätte sich Flottau besser informiert, dann wüsste er, dass Lauder unter Berufung auf ihm zugegangene neue Informationen sich in seiner Schlussansprache korrigiert und bei Orbán ausdrücklich entschuldigt hatte.
Zuletzt noch ein Wort über Flottaus Hauptthese: Ungarn fordere mit seinem Nationalismus die Europäische Union heraus. Nun kann man von laizistischer europäischer Warte von der ungarischen Berufung auf christliche Werte halten, was man will (nota bene: auch die schweizerische Bundesverfassung beginnt mit den Worten „Im Namen Gottes, des Allmächtigen“). Fest steht allerdings, dass sich die EU zu dieser innenpolitischen Frage und Stimmungslage in einem Mitgliedland nicht zu äussern hat. Sie wacht darüber, ob EU-Recht oder Menschenrechte verletzt werden, und sie wurde in den letzten Jahren in Budapest deswegen tatsächlich mehrmals vorstellig. Dass Orbán, gewiss ein stark konfrontativer Politiker, lediglich mit Korrekturversprechen reagiert habe, ist irrig. In mehreren Fällen – Pressegesetz, Justizwesen, Verfassungsartikel – wurde den Brüsseler Einwänden auch faktisch Rechnung getragen.
Ungerechte Pauschalisierungen?
Wenn wir unser Land rühmen, geschieht dies bekanntlich aus Patriotismus, wenn andere über ihr Land Gutes sagen, ist das hingegen Nationalismus. Tauglicher erscheint die Definition, wonach Nationalismus dort beginnt, wo für andere Nationen beleidigende, abfällige Vergleiche gezogen werden. Es dürfte schwer halten, Ungarns heutiger Regierung Äusserungen solcher Art nachzuweisen. Die nationale Rhetorik in Budapest wirkt eher antiquiert als aggressiv. Und es ist eine Überlegung wert, ob diese Sprache auch damit zu tun haben könnte, dass dem Land die nationale Selbstbestimmung von den Kommunisten über vierzig Jahre lang vorenthalten wurde.
Heiko Flottaus Irrtümer wären nicht solcher Ausführlichkeit wert, wenn sein Artikel nicht in Reinkultur das verkörpern würde, was sich heutzutage in Sachen Ungarn in den meisten deutschen Medien findet: pauschale Verurteilung bei dürftigen Landeskenntnissen. Jenseits der Frage, ob man nun die Regierung Orbán liebt oder herzhaft verabscheut, gäbe es auf deutscher Seite auch sonst Grund zu mehr Vorsicht und Zurückhaltung. Es wäre fatal, sollte sich in Osteuropa der Eindruck verfestigen, dass man in Deutschland – wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen – wieder dabei ist, dem „unterentwickelten“ Ausland von der unendlichen Höhe eigener Überlegenheit Lektionen zu erteilen.
*Der Autor ist in Ungarn geboren und in der Schweiz aufgewachsen. Er war mehrere Jahre NZZ-Korrespondent für Osteuropa mit Sitz in Budapest und später Dozent an der dortigen Andrassy-Universität. Er hat mehrere Bücher über ungarische Themen geschrieben.