Es handelt sich beim «Buch Judit» ja auch um eine romanhafte Erzählung aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert. Judit ist keine historische Figur aus der Zeit Nebukadnezars, des babylonischen Königs zur Zeit des jüdischen Exils (597–538). Ebenso wenig existiert in Realität die jüdische Bergfeste Betulia, wo der assyrische Kriegsführer Holofernes die jüdische Bevölkerung belagert, diese aushungern und von der Wasserversorgung abschneiden will. Darum gehört die Schrift auch zu den Apokryphen, das heisst zu den nicht kanonischen Schriften der jüdischen und der protestantischen Bibel.
Was nichts daran ändert, dass wir in dieser Judit (oft auch, je nach Sprachkonvention, «Judith» geschrieben) eine der faszinierenden Frauenfiguren aus der jüdischen Erzähltradition vor uns haben, die vor allem Maler, Dichter und Musiker bis in unsere Zeit hinein zu Nachgestaltungen und Umdeutungen herausgefordert hat. Judit gehört zu jener kleinen Schar von Frauen, durch deren beherztes Handeln die Geschichte einen anderen Verlauf nimmt.
Die verzagten Männer und die handelnde Frau
Während die Männer über eine Kapitulation und die Übergabe ihres Dorfes an den Feind nachdenken, tritt die Witwe Judit in Erscheinung und erläutert ihren Plan, in der Nacht, nur von ihrer Dienerin begleitet, sich ins Lager der Feinde einzuschleichen. Sie macht sich verführerisch schön, bietet sich Holofernes als Spionin und allem Anschein nach auch als erotische Gespielin an, geradezu eine antike Mata Hari! Bei einem Festgelage schenkt sie dem von ihr begeisterten Heerführer reichlich Wein ein, macht ihn trunken und fügsam. Sobald der Schlaf Holofernes übermannt hat, schlägt sie ihm mit dessen eigenem Schwert den Kopf ab. Danach kehren sie und ihre Dienerin mit dem Kopf des Holofernes, in einem Reis-Sack verpackt, zurück zu ihrem Volk in Betulia.
Die entdeckte Enthauptung und Verstümmelung des Kriegshelden führt zu Verwirrung und Flucht der assyrischen Soldateska. Das feindliche Zeltlager wird danach von den Juden geplündert. Judit stimmt ein Triumpf-Lied darüber an, wie Gott seinen Getreuen zu helfen wisse, wenn diese ihm die Treue halten. Danach bricht sie mit ihren Leuten von Betulia nach Jerusalem auf. Man hängt die Trophäen aus dem Zeltlager des Holofernes im Tempel auf. Nach der Rückkehr lebt Judit hochverehrt von ihrem Volk in Betulia und stirbt dort im Alter von 105 Jahren. Soweit die Ereignisse, wie sie im Buch Judit festgehalten sind.
Die Wirkungsgeschichte
Auch wenn man die hebräische Urfassung der Judit-Geschichte nicht kennt: Sie landete in der griechischen Bibel und entfaltete von dort aus eine geradezu fabelhafte Wirkung. Die erotischen wie die dramatischen Ereignisse im Zelt des Holofernes regten Künstler aller Epochen an, sich Varianten auszudenken über die Motive einer Frau, die vor einer so blutigen Tat nicht zurückschreckt. Vom Mittelalter bis in unsere Zeit hinein gibt es unzählige Versionen der Judit-Thematik, jeweils zu einer patriotischen, einer heilsgeschichtlichen, oder aber zu einer erotisch-psychologischen Deutung dieser unerschrockenen Frau neigend.
In deutscher Sprache ist wohl die Version von Friedrich Hebbel (1840) samt deren parodistischer Bearbeitung durch Johann Nestroy (1849) am stärksten in Erinnerung geblieben. Der Franzose Jean Giraudoux hat mit seiner «Judith» (1931) eine hochspannende Variante geliefert, welche die Selbstreflexion einer Frau vor Augen führt, die eine derartige Gräueltat begeht. Giraudoux liefert das Psychogramm einer hintergangenen Liebenden, die eher aus privaten Enttäuschungen zur blutrünstigen Rächerin wird.
In der Malerei sind Judit und Holofernes zwei Gestalten, die mit den grössten Namen der Kunstgeschichte verbunden sind: von Botticelli über Michelangelo und Tizian zu Caravaggio, Artemisia Gentileschi, Rubens und Rembrandt bis zu Gustav Klimt und Max Ernst. Anhand von Judit-Darstellungen könnte man geradezu eine Zeitgeschichte schreiben, wie Künstler in den vergangenen Jahrhunderten femininen Radikalismus sahen und einschätzten.
Und schliesslich die Musik! Die Geschichte der Judit ist seit der Barockzeit sehr oft in Opern und Oratorien gestaltet worden. Es beginnt Ende des 17. Jahrhunderts mit Alessandro Scarlattis Oratorium «La Giuditta» (1695). Antonio Vivaldi folgt bald darauf mit seinem grossartigen Oratorium «Juditha triumphans» (1716). Ein eigentlicher Judit-Furor brach aus, als der Librettist Pietro Metastasio seine früh-aufklärerische Version der Judit unter dem Titel «La Betulia liberata» – Das befreite Bethulien» – publizierte.
An die 40 Komponisten machten sich zwischen dem Jahr 1734, in welchem das Libretto erschien, bis zum Jahr 1820 an die Vertonung dieser Judit-Geschichte von Metastasio. Die allermeisten dieser Kompositionen sind nicht zu Unrecht der Vergessenheit anheimgefallen. Der Schweizer Komponist Arthur Honegger wird noch 1925 – nach einem anderen Libretto – eine Judit-Musik komponieren, betitelt «Judith – Cantique de Pâques». 1985 hat der Komponist Siegfried Matthus seine Judith-Oper zur Aufführung gebracht, wie es heisst: «nach dem gleichnamigen Drama von Friedrich Hebbel und aus Büchern des Alten Testaments». Da darf man doch vermuten, dass diese unvergängliche Judit auch in Zukunft erneuten Auferstehungen entgegenschreiten dürfte!
Die Lösung des jungen Mozart
Der 15-jährige Mozart war 1771 mit seinem Vater in Italien unterwegs und erregte dort als Tastenvirtuose, aber ebenso als frühreifer Komponist grosses Aufsehen. In Padua erhielt er von einem gewissen Giuseppe Ximena, Prinz von Aragon – offenbar ein Musikmäzen – den Auftrag, Metastasios beliebtes Libretto, das eher eine «Azione sacra» als eine Oper war, in Musik zu setzen. Mozart begann die Komposition vermutlich bereits während der Reise und schloss diese ab, als er wieder zurück in Salzburg war. Es ist nicht bezeugt, ob Mozarts Oratorium «La Betulia liberata» (KV 118) zu seinen Lebzeiten den Paduanern je zu Ohren kam.
Dabei handelt es sich bei dieser etwa 90 Minuten dauernden zweiteiligen Komposition um einen wirklich «grossen Wurf» eines heranwachsenden Genies. Ein reich besetztes Orchester, fünf Solisten und ein Chor sorgen für Dramatik ebenso wie für lyrische Innigkeit und virtuose Bravour. Wir hören Wut-Arien, Bittgebete und Lobgesänge auf die Retterin des jüdischen Volkes. Wir erleben das Eingeständnis eines Heiden, dass der Gott der Juden den heidnischen Gottheiten überlegen sein muss. Manches hört sich so an, als wolle der jugendliche Mozart beweisen, dass er den älteren Meistern – etwa seinem Salzburger Kollegen Michael Haydn – in der Kunst musikalischer Gestaltung inzwischen Paroli zu bieten vermag.
Für die Rolle der Judit – in Metastasios italienischsprachiger Version «Giuditta» genannt – wählt Mozart eine tiefe und dunkle Altstimme. Er stattet sie so mit einem Mantel rätselhafter Unheimlichkeit aus, der zu ihrer Attraktivität und Verführungskunst ebenso passt wie zu ihrer verborgenen Gewaltbereitschaft. Dieser Frau ist alles zuzutrauen!
Eine ideale Besetzung
Wir hören die Auftrittsarie der Giuditta aus dem 1. Teil. Im vorausgehenden Rezitativ bekundet sie ihr Entsetzen über die verantwortlichen Männer und Anführer, die bereit zu sein scheinen, den Feinden die Tore der Festung zu öffnen und die Siedlung Betulia ihnen zu überlassen. Man zweifle inzwischen offenbar an der göttlichen Gnade. Angesichts der drohenden Gefahr sei man verantwortungslos und verfalle dem lähmenden Irrtum, alles sei verloren und dem Untergang geweiht. Eine richtige Standpauke hält diese Frau ihrem Volk und dessen Führern.
Die darauf folgende Arie der Giuditta ist ein poetischer Apell, sich weder von falscher Hoffnung täuschen noch von übermässiger Furcht lähmen zu lassen. Wo die Furcht überwiege, da sterbe auch der Glaube an eine Rettung. Das Ufer eines Flusses sei in gleicher Weise unfruchtbar, («Del pari infeconda / d’un fiume è la sponda»), ob es überschwemmt werde oder ob es der Dürre ausgesetzt sei. Dieser entschlossenen Frau legt Metastasio hier eine Philosophie der Aktion in den Mund, für welche der junge Mozart Töne hinreissender Art findet.
In unserer Aufnahme wird Giuditta verkörpert von der so resoluten wie einschmeichelnden Stimme der serbischen Altistin Marijana Mijanovic, in einer konzertanten Aufführung der Salzburger Festspiele aus dem Jahr 2006 unter der Leitung von Christoph Poppen an der Spitze des Münchener Kammerorchesters. Man wird vergeblich nach einer Giuditta Ausschau halten, die das Verführerische und das Bedrohliche dieser Frau authentischer und glaubwürdiger verkörpert als in dieser Produktion.